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Kapitalismus Forever

Kapitalismus Forever

Titel: Kapitalismus Forever
Autoren: W Pohrt
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kein Risiko. Die durch die Ängstlichkeit geschärfte kleinbürgerliche Schlauheit ist zu gewitzigt, solche Versicherungen nicht als Betrug zu durchschauen. In der Tat würde eine wirkliche Revolution unter den kleinbürgerlichen Lebensgewohnheiten der Menschen gewaltig aufräumen. Dass keiner ungeschoren davonkäme, weiß jeder, spätestens seit der Kulturrevolution. Benjamins Forderung, die Revolution müsse ihre Energie nicht aus der spießigen Hoffnung auf das Wohlergehen der Enkelkinder beziehen, sondern aus dem Hass, die Generationen von Unterdrückten und Umgekommenen zu rächen, trifft den Kern. Die Sehnsucht nach einem glücklichen Leben kann sich gegenwärtig nicht als Hoffnung auf eine bessere Zukunft konkretisieren, sondern nur als die unumstößliche Gewissheit, dass ein Leben unter diesen Verhältnissen nicht lebenswert ist. Mit dieser Gewissheit verlieren die kleinbürgerlichen Ängste den totalitären Charakter, sämtliche Lebensäußerungen zu beherrschen.«
    Und heute? Wir dürfen uns für den Mindestlohn und die Anhebung von Hartz-IV begeistern. Viele Menschen brauchen das Geld. Aber für 100 Euro mehr im Monat militante, strapaziöse und riskante Massendemonstrationen im Regierungsviertel veranstalten? Es lohnt sich einfach nicht.
    Als die revolutionäre Radikalität, welche die Protestbewegung zusammen gehalten hatte, erloschen war, begann die Dominanz der Partikular­interessen. Es kristallisierten sich aus der Protestbewegung die vielen verschiedenen sozialen Gruppen heraus, die sich nebenbei von dieser Bewegung die Erfüllung ihrer Wünsche versprochen hatten – verhinderte Autorenfilmer und Schriftsteller, die Schwulen, die Lesben, Anhänger der Vielweiberei, Nacktbader und Freikörperkulturelle, Landkommunarden, Körnerfresser, Gesundheitsapostel, Jesuslatscher, Jute­freaks, Hausbesetzer, Frauenrechtlerinnen, Männerbündische, Antiautoritäre und solche, die gern selbst nach Oben kommen und deshalb das Establishment abservieren wollten.
    Und dann gab es noch die Lehrer, echte Lehrerstudenten oder Studierende von Studienfächern, bei denen es zum Brotberuf in der Schule kaum Alternativen gibt. Schon die Bolschewiki hatten das Problem, dass unter den Mitgliedern die Lehrer in der Überzahl waren. Lehrer besitzen eine natürliche Neigung zum Dogmatismus und zur Engstirnigkeit. Es gibt Leute, welche den Dogmatismus der KPDSU aus der Berufszugehörigkeit ihrer nach Anzahl bedeutendsten Mitgliedergruppe ableiten.
    Diese Gruppe war auch im SDS stark vertreten gewesen – Germanistik, Geschichte etc. Die Geis­teswissenschaftler hatten sich nach dem Zusammensacken der Protestbewegung als Quartier fürs Überwintern den Marxismus ausgesucht, und sie stellten sich dabei nicht ungeschickt an.
    Nach der Devise »Konkurrenz ist gut fürs Geschäft« verteilten sie sich auf verschiedene, einander heftig befehdende Vereine, so dass es nun neben den eigentlichen Marxisten die Marxisten-Leninisten gab, die Maoisten, die Trotzkisten etc. Ein kluger Schachzug, weil durch den Streit zwischen ihnen alle diese gegeneinander rivalisierenden Gruppen beschäftigt waren. Denn eine andere Beschäftigung hätten sie nicht gefunden, weil es für sie keine gab, und Mitglieder erwarten von ihrem Verein, dass er ihr Leben mit Beschäftigung, d.h. mit Sinn erfüllt.
    Es scheint sich dabei um eine Naturkonstante zu handeln. Verhaltensforscher fanden heraus, dass unter Stressbedingungen der Streit beim Überleben hilft. Sie setzen dazu in einem Rattenkäfig den Metallrost unter Strom. War nur eine Ratte allein im Käfig, ging sie jämmerlich ein. Waren mehrere Ratten im Käfig, fingen sie an, einander zu beißen. Am Ende des Experiments waren sie verletzt, aber sie hatten überlebt.

Die Frauenbewegung hat das Kapital vom Arbeitskräftemangel befreit
    Viele finden im Rückblick die Protestbewegung irgendwie liebenswert. Verblichenen soll man nichts Schlechtes nachsagen. »Irgendwie liebenswert« – ach ja, wir waren damals schon eine süße kleine Rasselbande. Das ist der Sound beim Klassentreffen vierzig Jahre später, wenn alle, die nun schon etwas aus dem Leim gegangen und verwittert sind, sich an die Zeit erinnern, wo sie noch anders ausgesehen haben. Das ist, was die Protestbewegung betrifft, heute die gängige Einschätzung im Feuilleton. Schließlich klopfen dort dauernd einander Leute anerkennend auf die Schulter, die alle aus dem gleichen Stall kommen, also unter dem gleichen Stallgeruch leiden und ihn
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