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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition)
Autoren: John Lanchaster
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zu Hause. Dem Haus meiner Eltern in Norfolk. Er war ins Fenster geflogen und gestorben. Ich war übers Wochenende zu Besuch, und an dem Morgen ist es passiert. Meine Mutter war ganz traurig. Ich habe ihr gesagt, ich würde mich darum kümmern und ihn wegwerfen, aber als ich ihn zum Kompost bringen wollte, da dachte ich, ich weiß nicht mehr genau, was ich dachte, ich dachte an Joseph Beuys, den kennen Sie wahrscheinlich gar nicht, er ist ein großartiger Künstler und ein Vorbild, und ich habe mich gefragt, was er wohl getan hätte. Ichdachte, das wäre doch eine sehr eindringliche Art von Stellungnahme. Die anderen habe ich mir von einem Tierpräparator besorgt. Keine Ahnung, wo der sie her hatte. Und es waren auch nur sechs oder sieben … es war dumm und ich hätte es nicht tun sollen. Das habe ich später eingesehen.«
    Mill schaute kurz zu dem Beamten rüber, der mit dem Schreiben fortfuhr. Falls die Eltern diese Aussage bestätigten, würde es keine Anklage wegen Tierquälerei geben. Aber womöglich eine Anklage wegen Missbrauchs der Postzustellung oder so etwas in der Art. So wie die Sache im Augenblick lag, war der Junge zwar schuldig, aber ins Gefängnis würde er wahrscheinlich nicht kommen. Es blieb noch eine große Frage übrig, und Mill konnte sehen, dass der Kriminalbeamte etwas Ähnliches dachte wie er. Hin und wieder – sehr selten – erwischte Mill sich dabei, dass er sich wünschte, ein Verdächtiger würde das tun, was in seinem eigenen Interesse lag, und nicht das, was dem Gesetz zugute kam. Auch jetzt hatte er dieses Gefühl. Dieser junge Mann brauchte dringend einen Anwalt und ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken, welche Art von Aussage die klügste wäre, statt einfach nur sein Gewissen zu erleichtern. Wäre Mill alleine hier, dann hätte er vielleicht nicht weiter nachgehakt; er hätte dem Jungen vielleicht die Zeit gegeben, sich zu sammeln. Die Ironie an der Sache war, dass ein echter Straftäter in dieser Position nie und nimmer, unter keinen Umständen, das Falsche gesagt hätte. Das Rechtssystem ist absolut brillant, wenn es darum geht, Menschen zu verhaften, die keine Ahnung haben, was sie sagen oder tun sollen, sobald sie in Schwierigkeiten geraten. Bei Kriminellen mit etwas mehr Erfahrung funktioniert es nicht so gut. Mill sagte so freundlich, wie er konnte:
    »Und die Autos? Waren Sie das auch ganz alleine?«
    Es gab keinerlei stichhaltige Beweise, die den Vandalismus an den Autos mit dem Rest der Kampagne in Verbindung gebracht hätten. Weder auf den Postkarten noch im Blog wurde der Umstand erwähnt, dass jemand mit einem Schlüsselbund die in derStraße geparkten Autos zerkratzt hatte. Bei dieser Tat handelte es sich um den bei Weitem schlimmsten strafrechtlichen Tatbestand, den es in der Pepys Road gegeben hatte. Er allein würde wahrscheinlich schon ausreichen, um der Person, die dafür verantwortlich war, eine Haftstrafe einzubringen, falls es der Polizei gegen alle Wahrscheinlichkeit gelingen sollte, diese Person auch ausfindig zu machen. Mill wollte diesen jungen Mann hier zwar zur Verantwortung ziehen, aber er hätte ihm gerne das Gefängnis erspart. Deswegen wurde ihm ganz schwer ums Herz, als er die geflüsterten Worte hörte:
    »Ja, ich ganz allein.«

107
    Der riesige rote Umzugswagen mit den Besitztümern der Younts war gegen elf Uhr vormittags losgefahren, in Richtung der M4 nach Minchinhampton. Arabella und die Kinder waren schon am Tag zuvor aufs Land gereist, und jetzt war Roger ganz allein im Haus. Das Einzige, was noch zu tun blieb, war, die Schlüssel bei seinem Notar abzugeben. Dann würde auch er aufs Land fahren, seine Tage in der Pepys Road wären vorüber, und ein ganz neues Leben würde beginnen.
    Roger freute sich darauf. Das sagte er sich zumindest. Etwas ganz Neues. Er war fertig mit der Stadt und auch mit der Finanzwelt. Er war fertig damit, immer diesen langen Weg zur Arbeit auf sich nehmen zu müssen, fertig mit den Nadelstreifenanzügen, fertig mit unreifen profitgeilen Untergebenen, mit all diesem europäischen Gesindel und mit Kunden wie Eric dem Barbar; fertig damit, zwanzig oder dreißig Mal so viel zu verdienen wie eine Durchschnittsfamilie, und das einzig und allein deshalb, weil sein Beruf etwas mit Geld zu tun hatte, statt mit Menschen oder Gegenständen. Er war fertig mit London und mit Geld und mit allem, was damit zusammenhing. Es war an der Zeit, etwas Echtes zu tun oder zu machen. Roger war zutiefst von diesem Gedanken überzeugt,
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