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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition)
Autoren: John Lanchaster
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wollen.«
    Es war nicht ganz leicht, die Rechte bis zum Ende vorzulesen. Der junge Mann, zu dem Mill gerade sprach, weinte vollkommen hemmungslos. Es war fast so, als würde er jemandem einen Todesfall mitteilen, und nicht so, als nähme er gerade eine Verhaftung vor. Wenn dich das jetzt so aus der Fassung bringt, warum zum Teufel hast du dann überhaupt damit angefangen, dachte Mill.
    Aber ein anderer Teil seines Gehirns kannte die Antwort darauf. Mills Erfahrung lehrte ihn, dass es durchaus Leute gab, die wollten, dass man ihnen auf die Schliche kam, aber er kannte auch noch eine andere Kategorie, eine weit weniger geläufige, nämlich jene Sorte von Menschen, die sich, sobald sie erwischt wurden, wünschten, es wäre schon viel früher dazu gekommen. Diese Sorte von Straftätern legte es zwar nicht gerade darauf an, geschnappt zu werden, aber wenn es dann doch geschah, lösten sie sich vor lauter Erleichterung und Schuld förmlich auf. Der hier sah so aus, als gehörte er in besagte zweite Kategorie. Mill zog eine Packung Taschentücher hervor und reichte sie dem Verdächtigen, wobei er den Blick seines Kollegen auffing, der mit gezücktem Notizblock neben ihm saß. Mill sagte: »Nun, nun, es wird schon wieder.« Der Mann nahm sich ein Taschentuch, putzte sich laut und gründlich die Nase, schaute sich dann nach einem Mülleimer um und ließ es schließlich, als er keinen finden konnte – obwohl es sich um seine eigene Wohnung handelte –, einfach auf die Erde fallen.
    »Ich wollte nichts Böses«, sagte Parker French, Smittys Ex-Assistent. »Die Sache ist mir irgendwie entglitten. Ich wollte wirklich niemandem schaden.«
    »Erzählen Sie doch mal ganz von Anfang an«, sagte Mill. Während der junge Mann damit beschäftigt gewesen war zu heulen, hatte sich Mill ausgiebig in dem Raum umgesehen. Es war ein Zweizimmerappartement. Ein Zimmer diente gleichzeitig als Küche, Wohnzimmer und Esszimmer, während das andere ein Schlafzimmer war. Man konnte deutlich erkennen, dass er sich die Wohnung mit seiner Freundin teilte. Die Lage hier in Hackney war durchaus nicht die billigste. Entweder hatte die Freundin einen gut bezahlten Job, oder einer von den beiden hatte etwas Geld geerbt. Parkers Sprechweise wies ihn als Angehörigen der Mittelschicht aus, der auf eine gute Schule gegangen war, ganz ähnlich wie Mill. Doch als erfreuliche Abwechslung schien er nicht nur jünger als der Kriminalinspektor zu sein, sondern sah auch tatsächlich so aus. In der Wohnung gab es für einen Mann seines Alters mehr CDs als üblich, und auch ziemlich viele Bücher, die alle manierlich geordnet im Regal standen. Der Fernseher war kein riesiges Flatscreen-TV, wie es sich ein alleinstehender Mann vielleicht angeschafft hätte, sondern ein normaler Fernseher von moderater Größe. Der Einrichtungsgegenstand, der den meisten Platz einnahm, war ein Poster der Picasso-und-Matisse-Ausstellung in der Tate Gallery.
    »Ich habe erst angefangen, über die Sache nachzudenken, nachdem Smitty … nachdem er mich gefeuert hat. Es tut mir leid, aber er war so ein ekelhaftes … er war einfach total grausam zu mir. Hat mich behandelt, als wäre ich zu nichts anderem nutze, als ihm Kaffee holen zu gehen. Ich bin auch Künstler! Ich habe dieselbe Ausbildung wie er! Aber er ist nicht durch die Gegend gerannt und hat den Leuten Kaffee geholt! Wenn er respektiert werden will, dann muss er auch andere respektieren. So was muss man sich erst verdienen. Aber nein, er ist ja Smitty, er hat das nicht nötig. Und dann, aus heiterem Himmel, vollkommen ohne Vorwarnung, sagter mir einfach, dass er mich rauswirft. Das war echt Mord. Der hat mich in die Wüste geschickt. Ich sollte mich in irgendeinem Loch verkriechen und krepieren.«
    Parker nahm sich noch ein Taschentuch und tat das Gleiche wie zuvor: Er schneuzte sich damit und warf es dann einfach auf den Boden.
    »Da bin ich wahnsinnig wütend geworden. Nicht sofort am selben Tag, aber dann später. Ich bin echt ausgerastet. Es war diese Geringschätzung, wissen Sie? Diese Nichtachtung. Ich war für ihn völlig bedeutungslos. So wie diese Sache im Irak. Das, was sie immer Kollateralschaden nennen. Ich war einfach nur ein Kollateralschaden. Ich war nicht mal so viel wert wie die Hundescheiße an seinen Schuhsohlen. Na egal, ich bin jedenfalls wütend geworden, und dann habe ich ein wenig nachgedacht und habe beschlossen, dass ich mir das nicht gefallen lasse. Ich habe mir vorgenommen, mich an Smitty zu rächen.
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