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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition)
Autoren: John Lanchaster
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als Brot und Obst gegessen, fühlte sich unwohl, aufgedunsen und litt unter Blähungen. Und dann sah sie den Wackelpudding. Er war rot, und es gab sogar ein paar Fruchtstücke darin. Es waren die Fruchtstücke, die sie schließlich überzeugten. Der Pudding sah zwar nicht besonders verlockend aus, aber immerhin essbar. Sie aß ihn. Er schmeckte süß. Er schmeckte wie Wackelpudding. Sie schaffte es, alles aufzuessen. Der Moment der Niederlage – oder der Hinnahme des eigenen Schicksals – war gekommen. Als sie den ersten Löffel hinunterschluckte, verspürte sie ein gewisses seelisches Unwohlsein, aber danach war es okay.
    Quentina hatte einen gedanklichen Trick entdeckt, der ihr die Zeit im Auffanglager etwas erträglicher machte. Er war eigentlich ganz simpel. Alles, was sie tat, war, sooft es notwendig oder hilfreich schien, sich immer und immer wieder dieselben Worte zu sagen: Das hier wird nicht ewig dauern. Es ist das Schwerste, was du je in deinem Leben tun musst. Es wird nicht ewig dauern. Schwieriger kann es nicht mehr werden. Das sagte sie sich zum Beispiel, wenn sie morgens aufwachte und ein paar Sekunden langnicht wusste, wo sie war. Manchmal, in den glücklichsten solcher Augenblicke, war sie wieder zu Hause, bei ihrem Vater und ihrer Mutter, im Schlafzimmer der Eltern – obwohl, die Tür war nicht da, wo sie hingehörte, und das Fenster war auf der falschen Seite des Bettes, und das Licht war auch irgendwie komisch. Und dann wachte sie auf und musste sich der Realität stellen: Sie war in einem Auffanglager, in England, in Haft, staatenlos, eine Unperson an einem Unort und fristete in einer Unzeit ihr Dasein.
    Aber das war nicht schwerer zu ertragen als alles andere auch. Es war alles gleich schwer. Es war zum Beispiel sehr schwierig, sich am selben Ort aufzuhalten wie die Leute, die sich im Hungerstreik befanden. Ein oder zwei derjenigen, die zuerst angefangen hatten, hatten mittlerweile wieder aufgegeben; eine davon war eine Kurdin mit zwei Kindern, deren Mann von Saddam getötet worden war. Sie war dem Tod schon ziemlich nahe gewesen. Ihre Augen waren riesig geworden, und das Schwarze ihrer Pupillen hatte eine seltsam graue Farbe angenommen, die in Kombination mit der blassen, fast gelben Farbe ihrer schlaffen und doch straff über die Knochen gespannten Haut sehr bizarr wirkte. Wenn da nicht ihre Kinder gewesen wären, dann hätte sie sich zu Tode gehungert, dessen war sich Quentina sicher. Tatsächlich war sie dem Abgrund bereits schon viel zu nahe gekommen, ihre Nieren versagten, und sie wäre fast noch gestorben. Andere hatten sich der Aktion angeschlossen, so dass es in diesem Nervenkrieg mit den Behörden mehrere Häftlinge in den verschiedensten Stadien des Hungerstreiks gab. Es erinnerte an eine Mutprobe, die ein paar Jungs spielten – obwohl man es wahrlich nicht als Spiel bezeichnen konnte.
    Was Quentina fast noch am wenigsten ertragen konnte, war die unendliche Ausdruckslosigkeit, mit der die Zeit an ihr vorüberzog. Deswegen hatte sie sich schließlich auch den Job als Politesse gesucht. Es war diese enorme Sehnsucht danach gewesen, etwas zu tun zu haben und nebenbei noch ein wenig Geld zu verdienen. Aber hier im Lager fragte sie sich, warum sich die Leute so über dieAbschaffung des Taschengelds von einundsiebzig Pence pro Tag aufregten. Das lag gar nicht mal daran, dass es eine so unerhebliche Summe war, sondern dass es einfach nichts gab, wofür man sie hätte ausgeben können. Besucher waren zwar erlaubt, aber sie durften nichts mit ins Gebäude bringen. Es gab ein paar Wohltätigkeitsorganisationen, die Besuche arrangierten, damit die Häftlinge Kontakt zur Außenwelt hatten. Für manche Lagerinsassen waren diese Besucher die einzigen nicht im öffentlichen Dienst stehenden britischen Staatsbürger, mit denen sie je in Berührung gekommen waren. Aber Quentina hatte keine Lust auf solche Besuche. Sie wollte nicht mit einem wildfremden Menschen über irgendwelche belanglosen Dinge reden, und noch viel weniger wollte sie sich bei jemandem beschweren, der ihr nichts Besseres bieten konnte als Anteilnahme. Makela, die nigerianische Ärztin, drängte sie, sich für die »Besuche von Freunden« – wie man dieses Programm genannt hatte – in die Liste einzutragen, aber Quentina lehnte ab.
    »Du machst einen Fehler«, sagte Makela. Sie gehörte zu den Menschen, die stolz darauf sind, immer alles offen auszusprechen. »Du verkriechst dich viel zu sehr. So was habe ich schon bei vielen
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