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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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tat.
    Natürlich weiß ich nicht, was sie wirklich dachte. Ganz sicher stimmte, dass es zu dem Selbstbild unserer Mutter – einer jungen gebildeten Frau mit bürgerlichen Wertvorstellungen – wohl kaum passte, sich mit Kleinkriminellen gemeinzumachen. Möglicherweise wusste sie nichts von dem vorherigen Betrugssystem mit der Air Force, da unser Vater ja jeden Morgen zum Stützpunkt aufgebrochen war, als wäre das eine Arbeit wie jede andere, nur in einer blauen Uniform. Kann sein, dass er ihr nicht erzählte, was dort lief, denn sie wäre vermutlich auch dann schon dagegen gewesen, und er hätte wissen können, dass sie es zunehmend enttäuschend fand, eine Fliegergattin zu sein.
    Vielleicht meinte sie, das Ende dieser Lebensweise nähere sich allmählich und es würde für sie besser, sobald Berner und ich alt genug wären, dann würde auch eine Scheidung vorstellbar. Sie hätte ihn in dem Augenblick verlassen können, als er ihr von dem Great-Northern-Plan erzählte. Aber wieder tat sie es nicht. Und deshalb kam all das, was hätte geschehen können, wenn sie Bev nie auf jener Weihnachtsparty begegnet wäre, die Gedichte, die sie geschrieben und veröffentlicht hätte, die Aussichten auf eine Lehrstelle an einem kleinen College, die Hochzeit mit einem jungen Professor, die Kinder, die nicht Berner und ich gewesen wären – all das, was ihr in einem anders angelegten Leben offengestanden hätte, kam nicht zustande. Stattdessen wohnte sie in Great Falls, einem Städtchen, von dem sie noch nie gehört hatte (so leicht zu verwechseln mit Sioux Falls, Sioux City, Cedar Falls), lebte in einer Welt, in der wir sie beschäftigt hielten und mit der sie fremdelte, wollte sich nicht einpassen und grübelte über die Zukunft. Während unser Vater in einer anderen Sphäre sein Dasein führte – mit seinem zum Pläneschmieden neigenden Wesen, seinem Optimismus, seinem Charme. Es schien dieselbe Welt zu sein, weil sie sie teilten und weil sie uns hatten. Aber es waren zwei verschiedene Sphären. Möglicherweise liebte sie ihn auch, denn er liebte sie zweifellos. Angesichts ihrer allgemein nicht optimistischen Einstellung, angesichts ihrer möglichen Liebe zu ihm und angesichts unserer Existenz konnte sie sich dem Schock, ihn zu verlassen und für immer mit uns allein zu sein, vielleicht nicht stellen. Solch eine Geschichte kommt gar nicht so selten vor.

5
    Eine Zeitlang müssen die Geschäfte meines Vaters mit den Cree und der Great Northern reibungslos geklappt haben. Obwohl meine Mutter in ihrer Chronik schrieb, dass sie um diese Zeit – Mitte Juli – anfing, »körperliche Malaisen« zu spüren und zum ersten Mal seit Jahren mit ihren Eltern telefonierte, wenn mein Vater unterwegs war, um zu lernen, wie man Ranches verkaufte, und die Lieferung des gestohlenen Rindfleisches zu überwachen. Die Großeltern waren nie Teil unseres Familienlebens gewesen. Meine Schwester und ich kannten sie nicht einmal, und uns war klar, wie ungewöhnlich das war, denn es gab Mitschüler, die ihre Großeltern ständig sahen, mit ihnen Ausflüge machten, Karten und Geschenke und Geld zum Geburtstag von ihnen bekamen. Unsere Großeltern aus Tacoma waren dagegen gewesen, dass ihre intelligente Tochter mit ihrem ordentlichen College-Abschluss einen glatten, lächelnden Fliegerbubi aus Alabama heiratete, der in ihrer abgeschiedenen Einwandererwelt in Tacoma die Alarmglocken schrillen ließ. Sie hatten meinen Vater beleidigt, weil sie mit ihrer Missbilligung nicht hinterm Berg hielten. Er war beleidigt, weil er sich unterschätzt fühlte, deshalb wurden wir nie von ihm ermutigt, sie zu besuchen, und umgekehrt ebenso wenig, obwohl ich nicht glaube, dass er es je ausdrücklich verbot – aber sie wären eh an keinen der Orte gekommen, wo wir lebten. Texas oder Mississippi. Dayton, Ohio. Sie waren der Ansicht, meine Mutter hätte »die Berufstätigkeit wählen«, in einer zivilisierten Stadt wohnen und einen Wirtschaftsprüfer oder Chirurgen heiraten sollen. Was sie, wie meine Mutter Berner erklärte, nie getan hätte; sie kannte sich als seltenen Vogel, wozu auch gehörte, dass sie sich immer ein abenteuerlicheres Leben gewünscht hatte. Aber ihre Eltern seien pessimistisch und ängstlich und unbeweglich, obwohl sie seit 1919 in Amerika lebten. Und sie fänden es zulässig, ihrer Tochter plus Familie die kalte Schulter zu zeigen und uns alle in den unbekannten Weiten des Landesinneren verschwinden zu lassen. »Es wäre natürlich schön, wenn ihr
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