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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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Holzhäuschen, wo die Verkäufer auf Kundschaft warteten. »Neuwagen bringen die Leute ins Armenhaus. Ein Tausender ist weg, sobald man vom Gelände fährt.« Ungefähr zu dieser Zeit – Ende Juni – sagte er auch, er denke an eine Reise in den Süden, nach »Dixie«, um mal zu schauen, wie die Dinge dort bei den »Hintermännern« stünden. Meine Mutter ließ ihn wissen, diese Reise werde er aber allein machen, ohne seine Kinder, worüber er sich ärgerte. Sie sagte, sie wolle nicht mal in die Nähe von Alabama. Mississippi habe ihr gereicht. Die Lage der Juden sei dort schlimmer als die der Farbigen, die wenigstens dort hingehörten. Ihrer Meinung nach sei Montana besser, weil die Leute hier nicht einmal wüssten, was Juden seien – und damit war ihre Diskussion beendet. Meine Mutter hatte eine zwiespältige Haltung zum Jüdischen, manchmal empfand sie es als Last, manchmal fühlte sie sich aber auch dadurch herausgehoben, was ihr gefiel. Es war nie ganz und gar gut. Berner und ich wussten nichts darüber, außer dass meine Mutter Jüdin war, was uns nach den alten Regeln offiziell auch zu Juden machte, und dass das auf jeden Fall besser war, als aus Alabama zu kommen. Wir sollten uns als »nicht praktizierend« betrachten oder als »entwurzelt«. Das hieß nur, wir feierten Weihnachten und Thanksgiving und Ostern und den 4. Juli gleichermaßen und gingen nicht zum Gottesdienst, was kein Problem war, denn in Great Falls gab es sowieso keine Synagoge. Eines Tages würde es vielleicht etwas bedeuten, aber im Moment war es nicht wichtig.
    Als unser Vater einen Monat lang im Gebrauchtwagenhandel tätig gewesen war, kam er eines Tages mit einem Auto nach Hause, das er sich selbst gekauft hatte – eingetauscht gegen unseren ’52er Mercury –, einem weiß-roten ’55er Bel Air Chevrolet, direkt von seinem Gelände. »Ein gutes Geschäft.« Er sagte, er habe sich einen neuen Job organisiert, als Verkäufer von Ranch- und Farmland – davon habe er zwar zugegebenermaßen keine Ahnung, aber er habe sich für einen entsprechenden Kurs im Kellergeschoss des YMCA angemeldet. Die anderen Männer in der Firma würden ihm helfen. Sein Vater sei Holzgutachter gewesen, deshalb sei er guten Mutes, dass er ein Gespür für die Dinge »draußen in der Wildnis« habe – ein besseres als für die Stadt. Außerdem, wenn Kennedy im November gewählt würde, bräche eine Zeit neuen Schwungs an, und als Erstes würden die Leute Land kaufen wollen. Davon würde ja nicht mehr gemacht, als nun mal da sei, sagte er, obwohl es hier in der Gegend schon ziemlich viel davon gebe. Bei den Prozentsätzen im Verkauf von Gebrauchtwagen, so habe er gelernt, schnitten alle gut ab, bis auf die Verkäufer. Er wisse nicht, warum er das als Letzter habe herausfinden müssen. Unsere Mutter war ganz seiner Meinung.
    Wir, meine Schwester und ich, wussten es damals natürlich nicht, aber den beiden muss wohl in dieser Zeit – nachdem er die Air Force verlassen hatte und sich angeblich draußen in der Welt finden wollte – klar geworden sein, dass sie allmählich auseinanderdrifteten, dass sich ihr Blick auf den anderen veränderte, vielleicht auch, dass die Unterschiede zwischen ihnen nicht dahinschmolzen, sondern größer wurden. All das dicht gedrängte, vereinnahmende, turbulente Herumvagabundieren von einem Luftwaffenstützpunkt zum nächsten, dabei auch noch flugs zwei Kinder großzuziehen, und das jahrelang, hatte ihnen gestattet, eine Erkenntnis vor sich herzuschieben, zu der sie gleich zu Anfang hätten gelangen müssen – wahrscheinlich noch eher sie als er: dass die ursprünglichen Kleinigkeiten sich inzwischen zu etwas ausgewachsen hatten, das zumindest ihr nicht mehr gefiel. Sein Optimismus, ihre fremdelnde Skepsis. Der Südstaatler in ihm, die jüdische Einwanderin in ihr. Seine geringe Bildung, dagegen der Wert, den sie darauf legte, und ihr Gefühl, ein unerfülltes Leben zu führen. Als ihnen das klar wurde, hatten sie beide mit Spannungen und Vorahnungen zu kämpfen, jeder auf seine Weise. (Das spricht aus verschiedenen Bemerkungen meiner Mutter, vor allem in ihrer Chronik.) Hätten die Dinge sich so entwickeln dürfen wie bei Tausenden anderen – allmählich hin zu einer ganz gewöhnlichen Trennung –, hätte sie Berner und mich einfach einpacken und mit dem Zug nach Tacoma bringen können, woher sie stammte; oder nach New York oder Los Angeles. Dann hätten sie beide eine Chance auf ein gutes Leben in der großen weiten Welt
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