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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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eure Großeltern kennenlernen würdet, bevor sie sterben«, sagte sie einige Male zu uns. Sie hatte ein gerahmtes Schwarzweißfoto, das an den Niagarafällen aufgenommen worden war – drei einander ähnelnde bebrillte Menschlein, die Gummiregenjacken trugen und verdruckst und verdattert auf dem Landungssteg eines Bootes posierten (der »Maid of the Mists«, wie ich mittlerweile weiß, weil ich selbst auch damit gefahren bin), das bis hinter die dröhnend herunterprasselnden Wassermassen fuhr. Das war auf der Erinnerungsreise ihrer Eltern quer über den Kontinent, an ihrem zwanzigsten Hochzeitstag 1938. Unsere Mutter war zwölf. Sie hießen Woitek und Renata, ihre amerikanischen Namen lauteten Vince und Renny. Kamper hießen sie auch nicht wirklich. Kampycznski. Der Name meiner Mutter, Neeva Kampycznski, passte besser zu ihr als Kamper oder Parsons – Letzterer passte überhaupt nicht zu ihr. »Das ist mal ein richtiger Wasserfall, Kinder«, sagte sie und starrte das zerknickte Foto an, das sie für uns aus ihrem Schrank geholt hatte. »Das werdet ihr beide eines Tages sehen. Daneben sind die mickrigen Wasserfälle hier ein Witz. Von wegen groß. Von Great Falls kann man nur reden, wenn man nichts anderes kennt, wie es typisch für die Hinterwäldler hier ist.«
    Ich nahm an, dass unsere Mutter ihren Eltern berichtete, wie unzufrieden sie war, und vielleicht sprach sie auch davon, unseren Vater zu verlassen und Berner und mich mit nach Tacoma zu nehmen. Bis dahin war mir nicht klar gewesen, dass Seattle und Tacoma so nah beieinanderlagen. Ich hatte aus unserer wöchentlichen Schulzeitung von der Weltraumnadel in Seattle erfahren, weil sie zu der Zeit gerade gebaut wurde. Die wollte ich sehen. Von Great Falls, Montana, aus betrachtet wirkte die Weltausstellung großartig und umwerfend. Ich weiß nicht, ob unsere Großeltern offen für die Klagen unserer Mutter waren und uns zusammen mit ihr bei sich aufgenommen hätten. Sie war seit fünfzehn Jahren weg, und nicht mit ihrem Segen. Meine Großeltern waren alt – rigide, konservative Intellektuelle, die in schlimmen Zeiten mit dem Leben davongekommen waren und Wert auf Berechenbarkeit legten. Dass sie aufgeschlossen reagierten, war nur eine Möglichkeit. Aber ich glaube eben, dass es meiner Mutter auch nicht leichtgefallen wäre zu gehen – so fehl am Platz sie sich fühlte. In dieser Hinsicht war sie vielleicht weniger unkonventionell und konservativer, als ich ihr zutraue. Ihren Eltern ähnlicher, als sie ahnte.
    Ich war inzwischen sehr darauf erpicht, auf die Highschool von Great Falls zu gehen, und wünschte mir, sie könnte schon viel früher als September losgehen, damit ich öfter aus dem Haus wäre. Ich hatte in Erfahrung gebracht, dass der Schachclub sich im Sommer einmal pro Woche in einem staubigen, stickigen Raum im Südturm der Schule traf. Ich fuhr mit dem Fahrrad über die alte, geschwungene Flussbrücke und dann bis hinauf zur Second Avenue South, um mich den älteren Jungs als »Beobachter« anzuschließen, die gegeneinander spielten und kryptisch über Schach und ihre persönlichen Strategien und Kraftopfer redeten und mit berühmten, mir nicht bekannten Namen um sich warfen – Gligorić, Ray Lopez, sogar Bobby Fischer, der schon zu den Meistern gehörte und von den Clubmitgliedern bewundert wurde (man wusste, dass er Jude war, worauf ich unsinnigerweise und insgeheim ein bisschen stolz war). Ich hatte keine Ahnung, wie man Schach spielt. Aber mir gefielen die Ordnung auf dem Brett und das antiquierte Aussehen der Figuren und wie sie sich in meiner Hand anfühlten. Ich wusste, dass man für dieses Spiel logisch denken, Züge weit im Voraus planen und ein gutes Gedächtnis haben musste – das sagten zumindest die anderen Jungen. Die Mitglieder hatten nichts dagegen, dass ich dabei war, sie waren arrogant, aber freundlich, und nannten mir Bücher, die ich lesen sollte, außerdem das Monatsmagazin »Der Schachmeister«, das ich abonnieren könne, wenn es mir ernst sei. Sie waren nur zu fünft. Keine Mädchen unter den Mitgliedern. Sie waren die Söhne von Anwälten und Krankenhausärzten und redeten hochgestochen über alles Mögliche, wovon ich keine Ahnung hatte, was mich aber brennend interessierte. Der Vorfall mit dem Spionageflugzeug, Francis Gary Powers, der »Wind des Wandels«, die Revolution in Kuba, dass Kennedy Katholik war, Patrice Lumumba, ob der hingerichtete Mörder Caryl Chessman wohl, statt eine Henkersmahlzeit zu sich zu nehmen,
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