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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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gehabt. Mein Vater hätte möglicherweise zur Air Force zurückgehen können, es war ihm ohnehin schwer genug gefallen, sie zu verlassen. Er hätte eine andere Frau heiraten können. Sie hätte wieder studieren können, sobald Berner und ich auf dem College gewesen wären. Sie hätte Gedichte schreiben können, ihren frühen Ambitionen folgend. Das Schicksal hätte ihnen ein besseres Blatt auf die Hand gegeben.
    Wenn sie diese Geschichte erzählen würden, käme natürlich eine andere dabei heraus, eine, in der sie die Hauptdarsteller der folgenden Ereignisse wären und meine Schwester und ich die Zuschauer – unter anderem sind Kinder ja genau das für ihre Eltern. Die Welt stellt sich Bankräuber normalerweise nicht mit Kindern vor – dabei haben bestimmt viele welche. Doch die Geschichte der Kinder – meine Geschichte und die meiner Schwester also – zu gewichten, strukturieren und bewerten, das steht uns selbst zu. Jahre später las ich auf dem College, dass der große Kritiker Ruskin einmal gesagt hat, Komposition sei das Arrangieren ungleicher Dinge. Das heißt, der Komponierende hat zu entscheiden, was womit gleichwertig ist, was mehr zählt und was beiseitegestellt werden kann, während das Leben daran vorbeiwirbelt, immer weiter vorwärts.

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    Das meiste, was ich über das Folgende weiß – ab Hochsommer 1960 –, stammt aus verschiedenen unsicheren Quellen: aus der Great Falls Tribune , die die Tat unserer Eltern als etwas Fantastisches und Lachhaftes darstellte. Anderes weiß ich aus der Chronik, die meine Mutter schrieb, während sie im Gefängnis von Golden Valley County in North Dakota saß und auf ihren Prozess wartete, und später dann im Zuchthaus von North Dakota in Bismarck. Ich weiß einiges aus den damaligen Bemerkungen mancher Leute. Und natürlich weiß ich ein paar Einzelheiten, weil wir mit ihnen im selben Haus lebten und sie beobachteten – wie es Kinder tun –, während die Dinge sich von einem friedlichen, guten Alltag zu einem schlechten wandelten, dann schlimmer wurden und letztlich so schlimm, wie man es sich nur vorstellen konnte (vorerst allerdings noch ohne Tote).
    Mein Vater war fast die ganze Zeit seiner Stationierung auf dem Luftwaffenstützpunkt von Great Falls – vier Jahre lang – an einem kriminellen System beteiligt gewesen (was wir allerdings nicht wussten): Er lieferte gestohlenes Rindfleisch an den Offiziersclub und bekam Geld und frische Steaks dafür, die wir zweimal die Woche zu Hause aßen. Das System war auf dem Stützpunkt gut etabliert und wurde bei der Versetzung von einem Versorgungsoffizier an den nächsten weitergegeben. Dazu gehörten illegale Geschäfte mit einigen Indianern vom Cree-Stamm, die südlich von Havre, Montana, in einem Reservat lebten und sich darauf spezialisiert hatten, Hereford-Kühe aus den Herden der ortsansässigen Rancher zu stehlen, sie sofort heimlich zu schlachten und dann die Rinderhälften zum Stützpunkt zu transportieren, alles über Nacht. Das Fleisch wurde dann von dem Manager des Offiziersclubs in der Kühlkammer des Clubs gelagert und den Majors und Colonels und dem Stützpunktkommandanten und ihren Frauen serviert, die keine Ahnung hatten, wo es herkam, was ihnen auch egal war, solange keiner erwischt wurde und das Fleisch von guter Qualität war – und das war es.
    Natürlich war das als Betrug läppisch, weshalb es auch seit Jahren problemlos lief und jeder erwartete, dass es ewig so weitergehen würde. Bloß flogen irgendwann aufgrund eines Missverständnisses peinlicherweise Teile des Systems auf, die mit der Rechnungsstellung im Bereich Versorgung und Bedarfsanforderung zu tun hatten, mehrere Air-Force-Leute bekamen Disziplinarverfahren, und mein Vater verlor seinen Captainsrang (auf den er stolz war) und wurde wieder First Lieutenant. Womöglich war der Schwindel zum Teil auch seinetwegen aufgeflogen, aber das kam nie zur Sprache. Die ganze Episode – von der Berner und ich nichts wussten – trug mit Sicherheit dazu bei, dass mein Vater beschloss, die Air Force zu verlassen. Möglicherweise wurde er sogar dazu gedrängt, obwohl er eine ehrenvolle Entlassungsurkunde bekam, die er einrahmte und übers Klavier neben das Roosevelt-Foto hängte. Sie war auch noch dort, nachdem unsere Eltern verhaftet worden waren, als meine Schwester und ich allein im Haus saßen und keiner nach uns schaute. In diesen Tagen stellte ich mich mehrfach davor, musterte sie (»Ehrenvoll entlassen aus der United States Air Force … ein
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