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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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bestimmt, doch dass unsere Mutter unseren Vater heiratete, bedeutete in Wahrheit einen Verlust, ihr Leben änderte sich für immer, und nicht zum Guten, das muss ihr irgendwann klar geworden sein.
    Meine Mutter, Neeva Kamper (kurz für Geneva) war eine sehr kleine, energische, bebrillte Frau mit widerspenstigen braunen Haaren, von denen eine flaumige Spur am Kiefer entlanglief. Ihre Augenbrauen waren dicht, ihre Stirn glänzte dünnhäutig, so dass die Adern durchschienen, und ihr blasser Stubenhockerteint ließ sie zerbrechlich erscheinen – was sie nicht war. Mein Vater sagte im Scherz, in Alabama, wo er herkomme, hießen ihre Haare »Judenhaare« oder »Einwandererhaare«, aber er mochte es und liebte sie. (Sie schien diese Worte nie besonders zu beachten.) Sie hatte kleine, zarte Hände, deren Nägel stets gepflegt und poliert waren, darin war sie eitel, und sie wedelte oft zerstreut mit ihnen herum. Ihr Blick auf die Welt war skeptisch. Wenn wir mit ihr sprachen, hörte sie genau zu und konnte in ihrer geistreichen Art beißend werden. Sie trug eine randlose Brille, las französische Gedichte und benutzte oft Ausdrücke wie »cauchemar« oder »trou de cul«, die meine Schwester und ich nicht verstanden. Sie schrieb selbst Gedichte, in brauner Tinte, die sie per Versand bestellte, und ein Tagebuch, in dem wir nicht lesen durften. Normalerweise schaute sie mit leicht gerümpfter Nase drein, mit einem astigmatischen Ausdruck der Verblüfftheit – das wurde typisch für sie und war es vielleicht immer schon gewesen. Vor ihrer Hochzeit und der bald darauf folgenden Mutterschaft hatte sie mit achtzehn ihren Abschluss am Whitman College in Walla Walla gemacht, in einem Buchladen gearbeitet, sich als mögliche Boheme-Künstlerin und Dichterin gesehen und gehofft, eines Tages eine Stelle als fleißige Dozentin an einem kleinen College zu bekommen, verheiratet mit einem anderen Menschen als mit dem, den sie geheiratet hatte – zum Beispiel einem College-Professor, der ihr das Leben ermöglicht hätte, für das sie ihrem Gefühl nach bestimmt war. 1960, als diese Ereignisse sich zutrugen, war sie erst vierunddreißig. Aber sie hatte schon »ernste Falten« neben der Nase, die klein war, mit rosiger Spitze, und ihre großen, durchdringenden graugrünen Augen hatten verschattete Lider, wodurch sie etwas fremdländisch aussah, auch traurig und unzufrieden – was alles zutraf. Ihr Hals war schön und schmal, und ihr Lächeln, das plötzlich und unerwartet kam, setzte ihre kleinen Zähne und ihren mädchenhaften, herzförmigen Mund in Szene, obwohl sie es selten zeigte – außer meiner Schwester und mir gegenüber. Wir merkten, dass sie eine ungewöhnlich aussehende Person war in ihrer üblichen Kleidung, die aus olivfarbenen Hosen und Baumwollblusen mit weiten Ärmeln bestand, dazu Hanf-Baumwollschuhen, die sie sich bestimmt von der Westküste schicken ließ – so etwas konnte man in Great Falls nicht kaufen. Und sie wirkte nur umso ungewöhnlicher, wenn sie widerstrebend neben unserem großen, gutaussehenden, extrovertierten Vater stand. Wobei es selten vorkam, dass wir als Familie »ausgingen« oder im Restaurant aßen, wir bekamen also kaum mit, wie sie draußen in der Welt, unter fremden Leuten, dastanden. Wir fanden das Leben bei uns zu Hause normal.
    Meine Schwester und ich konnten gut nachvollziehen, warum meine Mutter sich von Bev Parsons angezogen fühlte: Er war groß und hatte ein breites Kreuz, gab sich gesprächig und witzig und war stets willens, jedem zu gefallen, der in seine Nähe kam. Aber wir durchschauten nie ganz, was ihn an ihr faszinierte – sie war sehr klein (knapp über einsfünfzig), in sich gekehrt und scheu, künstlerisch begabt, hübsch nur, wenn sie lächelte, und geistreich nur, wenn sie sich ganz und gar wohlfühlte. Er muss all das einfach geschätzt haben, gespürt haben, dass sie subtiler dachte als er, aber dass er ihr gefallen konnte, das machte ihn glücklich. Es spricht für ihn, dass er über die äußeren Unterschiede hinaussehen konnte, bis zum menschlichen Kern, was ich bewunderte, auch wenn es meiner Mutter nicht gegeben war, das zu bemerken.
    Und doch, die eigenartige Verbindung ihrer nicht zueinanderpassenden körperlichen Eigenschaften spielt in meinem Kopf eine wichtige Rolle, denn sie erklärt mir zum Teil, warum sie so schlimm endeten: Sie waren schlicht die Falschen füreinander, hätten nie heiraten oder sonst was miteinander anfangen sollen, hätten nach ihrer
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