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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
Autoren: David Graeber
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politischer Macht erlangen konnte, dies stets unter der Führung eines bürokratischen Kaders geschah. Dieser hatte sich ein produktivistisches Ethos auf die Fahnen geschrieben, das die überwiegende Mehrheit der Arbeiterklasse jedoch gar nicht teilte. In den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts bestand der Hauptunterschied zwischen anarchistischen und sozialistischen Gewerkschaften darin, dass Letztere stets höhere Löhne forderten, Erstere jedoch auf eine Senkung der Arbeitszeit drängten. Das Verbraucherparadies, das die bürgerlichen Feinde schaffen wollten, fand auch innerhalb der sozialistischen Führung großen Anklang; im Prinzip wollten sie nur das existierende Produktionssystem unter ihre eigene Verwaltung stellen. Was die Anarchisten im
Gegensatz hierzu anstrebten, war mehr Zeit zum Leben, mehr Zeit, um Formen von Wert (um sich – möglicherweise unpassender  – marxistischer Begrifflichkeiten zu bedienen) anzustreben, an die Kapitalisten noch nicht einmal im Traum denken würden. Doch wo sind die Revolutionen letztlich ausgebrochen? Wie wir alle aus der Kontroverse zwischen Marx und Bakunin wissen, waren es die Anhänger des Anarchismus  – also genau diejenigen, die die Werte der Konsumgesellschaft ablehnten –, die sich tatsächlich erhoben, egal ob man nun nach Spanien, Russland, China und Nicaragua oder auch nach Algerien und Mosambik blickt. Trotzdem mussten sie sich am Ende der Herrschaft sozialistischer Bürokraten unterordnen. Diese huldigten dem Ethos des Produktivismus und träumten von einem konsumistischen Wunderland, obwohl das das Letzte war, was sie je hervorbringen könnten.
    Ironischerweise bestand der hauptsächliche gesellschaftliche Vorteil, den die Sowjetunion und ähnliche Regime ihrer Bevölkerung zu bieten hatten, genau darin, mehr Zeit zu haben. Denn wer kümmert sich schon um Arbeitsdisziplin, wenn man praktisch nicht entlassen werden kann? Offiziell wurde dies natürlich nie eingeräumt. Stattdessen sprach man davon, dass das »Problem der häufigen Fehlzeiten« eine unmögliche Zukunft voller Schuhe und Unterhaltungselektronik verhindere. Doch wenn man einmal darüber nachdenkt, muss man erkennen, dass es auch bei uns nicht viel anders ist. So fühlen sich selbst Gewerkschafter verpflichtet, bürgerliche Begrifflichkeiten zu übernehmen, in denen Produktivität und Arbeitsdisziplin als absolute Werte erscheinen. Aus diesem Grund tun sie so, als wäre die Freiheit, auf einer Baustelle herumlungern zu dürfen, kein hart erkämpftes Recht, sondern vielmehr ein Problem. Zugegebenermaßen wäre es natürlich besser, täglich einfach vier Stunden zu arbeiten, statt die
Arbeit, die man sonst in vier Stunden erledigen könnte, auf acht Stunden auszudehnen. Aber das wäre immerhin ein Anfang. Die Welt braucht weniger Arbeit.
    Damit soll natürlich nicht bestritten werden, dass es viele Angehörige der Arbeiterklasse gibt, die zu Recht stolz auf das sind, was sie tun und leisten. Die Perversität des Kapitalismus (auch des Staatskapitalismus) besteht jedoch darin, dass genau das gegen uns verwendet wird. Dies ist uns durchaus bewusst. So kam es zu dem verhängnisvollen Paradox, das das Leben der Arbeiterklasse bis heute prägt. Denn fast alles, was das moderne Leben erträglich und lebenswert macht – von Şiş Kebap über Rock ’n’ Roll bis hin zu öffentlichen Bibliotheken  –, haben wir im Grunde Angehörigen der Arbeiterklasse und deren Befindlichkeiten zu verdanken. (Und seien wir doch einmal ehrlich, was hat die Mittelschicht schon jemals Großartiges hervorgebracht?) Allerdings, und das ist der springende Punkt, bringt die Arbeiterklasse all das genau dann hervor, wenn sie gerade nich t arbeitet. Dieser Lebensbereich wird von den Verfechtern des Kapitalismus perfiderweise als »Konsum« abgetan, was es den auffallend unkreativen bürokratischen Klassen (zu denen ich auch die Kapitalisten zähle) ermöglicht, diese ganze Kreativität erst kleinzureden, dann von ihr Besitz zu ergreifen und sie schließlich zu vermarkten, als sei dies alles ihre eigene Erfindung.
    Wie kann dieser Zyklus nun durchbrochen werden? In gewisser Weise ist das die grundlegende politische Frage. Einer der wenigen Punkte, in dem in öffentlichen Diskussionen über Haushaltspolitik, aber auch in Bezug auf Klassenpolitik scheinbar Einigkeit herrscht, ist, dass nur wer bereit ist, sich einem geradezu irrsinnigen Maß an Arbeitsdisziplin zu unterwerfen, ein Anrecht auf irgendetwas
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