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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
Autoren: David Graeber
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solche Typologie überhaupt entwickelt werden? Wie kann jemand in einer bestimmten geschichtlichen Epoche gefangen sein und dennoch die gesamte Struktur der Geschichte überblicken, in der eine Phase an die Stelle der vorhergehenden rückt?
    Der Prophet hat natürlich auf diese Frage eine Antwort. Das Leben einer einzelnen Person kann erst nach ihrem Tod als eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende aufgefasst werden; genauso kann man die Geschichte nur aus einer Perspektive am Ende der Zeit heraus als Erzählung begreifen. Dabei spielt es keine Rolle, dass wir eigentlich nicht wissen, wie die messianische Zukunft aussehen wird: Trotzdem kann diese als archimedischer Punkt dienen, als Zeit außerhalb der Zeit, über die wir zwar nichts wissen können, die ein Wissen aber nichtsdestoweniger ermöglicht.
    Natürlich hatte Bifo explizit die These vertreten, dass die Zukunft tot sei. Das 20. Jahrhundert, so erklärte er, sei das »Jahrhundert der Zukunft gewesen«. (Aus diesem Grund stellte er auch die Futuristen an den Anfang seiner Analyse.) Doch diese Phase hätten wir inzwischen überwunden und seien stattdessen zu einem Jahrhundert übergegangen, in dem es keine Zukunft, sondern lediglich Prekarität gebe. Wir seien an einem Punkt angekommen, an dem es unmöglich geworden sei, sich auch nur vorzustellen, dass man sich in irgendeiner sinnvollen Weise in der Zeit nach vorne befördern könne. Die einzige radikale Geste, die uns noch bleibe, sei somit die Selbstverstümmelung oder der Selbstmord. Sicherlich spiegelte
diese Haltung zugleich eine gewisse Stimmung wider, die zurzeit in radikalen Kreisen vorherrscht. Wir haben in der Tat das Gefühl dafür verloren, wo wir in der Geschichte stehen. Dieser Eindruck reicht weit über radikale Kreise hinaus: So ist die gesamte nordatlantische Welt in letzter Zeit in eine Art Weltuntergangsstimmung verfallen. Es wird in großem Stil gegrübelt über schlimme Katastrophen, das Ölfördermaximum, Wirtschaftskrisen oder die Zerstörung der Umwelt. Und doch möchte ich behaupten, dass die Idee von Zukunft, in ihrer altmodischen revolutionären Bedeutung, selbst außerhalb revolutionärer Kreise nie wirklich verschwinden wird. Denn ohne eine solche Zukunft würde unsere Welt überhaupt keinen Sinn ergeben.
    Daher stehen wir vor einem Dilemma. Zwar erscheint den meisten von uns die Zukunft im revolutionären Sinne in zunehmendem Maße unwahrscheinlich; trotzdem ist diese Idee nicht aus der Welt zu schaffen. Folglich dringt die Zukunft allmählich in die Gegenwart ein. Daher wird zum Beispiel so beharrlich darauf hingewiesen, dass der Kommunismus ja bereits da sei, wir müssten es nur erkennen. »Die Zukunft« ist zu einer Art verborgener Dimension der Wirklichkeit geworden, eine immanente Gegenwart, die unterhalb der alltäglichen Oberfläche der Welt liegt und theoretisch permanent ausbrechen könnte, wenn auch nur in einem winzigen, unvollkommenen Aufflackern. In diesem Sinne leben wir gezwungenermaßen mit zwei sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Zukunft: zum einen der Zukunft, von der wir vermuten, dass sie tatsächlich eintreten wird. Diese wird vielleicht eintönig, vielleicht auch katastrophal ausfallen, aber auf keinen Fall in irgendeiner Hinsicht erlösend. Zum anderen gibt es »die Zukunft« in der alten revolutionären, apokalyptischen Wortbedeutung, also die Erfüllung der Zeit, die Auflösung der
Widersprüche und so weiter. Ein wirkliches Wissen über diese Zukunft ist unmöglich, doch gleichzeitig kann nur aus der Perspektive dieses unwissbaren Außens heraus ein wirkliches Wissen über die Gegenwart entstehen. »Die Zukunft« ist unsere Traumzeit geworden.
    Diese Vorstellung weist eine gewisse Ähnlichkeit mit der Konzeption der Ewigkeit des heiligen Augustinus auf. Die Ewigkeit ist bei Augustinus die Grundlage, die, da sie der Schöpfung der Zeit vorausgeht, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft vereint. Doch meiner Meinung nach ist das Konzept der Traumzeit womöglich noch passender. Australische Aborigine-Gemeinschaften konnten traditionell ihre Existenz nur in Relation zu einer weit entfernten Vergangenheit erklären, die völlig anders funktionierte (und in der beispielsweise Tiere zu Menschen werden und sich auch wieder zurückverwandeln konnten). Diese Vergangenheit war gleichzeitig unwiederbringlich, aber auch in gewisser Weise stets vorhanden; die Menschen konnten sich in Trance versetzen und träumen, um auf diese Weise zu wahrer
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