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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
Autoren: David Graeber
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ziemlich clever. Im Vorfeld hatten sie durchblicken lassen, dass es Ziele in der Innenstadt von London treffen sollte, doch stattdessen wurden die Teilnehmer in Grüppchen zu einem Pendlerzug nach Essex geleitet, also weit jenseits der Stadtgrenzen. Man hatte ihnen zuvor nur gesagt, sie sollten Tageskarten für den Nahverkehr sowie Verpflegung mitbringen und Outdoor-Kleidung tragen. Während eines Halts des Zuges tauchten plötzlich auf mysteriöse Weise Einkaufstüten voller weißer Schutzanzüge auf, die mit Skeletten und Dollarzeichen bemalt worden waren, sowie weitere Ausrüstung und Rohre zum Aneinanderketten (so genannte »Lock-ons«). Kurz darauf erfuhren die eilig für jedes Abteil ernannten Sprecher – die man selbst buchstäblich bis zur letzten Minute im Unklaren gelassen hatte –, was wirklich für diesen Tag geplant war: Die Aktion sollte darin bestehen, die Zufahrtsstraße zu der riesigen Raffi-nerie
Coryton bei Stanford-le-Hope zu blockieren. Über diese Straße wird immerhin achtzig Prozent des gesamten in London benötigten Öls transportiert. Die Organisatoren gaben bekannt, dass eine Bezugsgruppe, bestehend aus circa einem Dutzend Frauen, sich bereits an mehrere Lastwagen in der Nähe des Zugangstors gekettet und dadurch etliche Tankwagen zur Umkehr gezwungen habe. Wir würden als Unterstützung hinzukommen und auf diese Weise die Polizei daran hindern, die Aktivistinnen zu überwältigen und festzunehmen.
    Dies stellte sich als geniales und überdies äußerst effektives Täuschungsmanöver heraus. Schon bald nach unserer Ankunft liefen wir im Pulk über Felder und sprangen über Bäche, wobei wir dreizehn riesige Dreibeine aus Bambus mit uns mitschleppten. Eine Handvoll verwirrter Polizeibeamter der Metropolitan Police blieb uns dicht auf den Fersen. Irgendwann tauchten zudem auf die Schnelle zusammengezogene Polizeitruppen aus der örtlichen Umgebung auf der Bildfläche auf. Zunächst schien es, als wollten sie gewaltsam gegen die Aktivisten vorgehen: Sie beschlagnahmten eines unserer Dreibeine und versuchten unsere Blockade zu durchbrechen, die wir quer über die Schnellstraße errichten wollten. Als jedoch klar wurde, dass wir nicht aufgeben würden und dass sie Schlagstöcke würden einsetzen müssen, muss jemand die Anweisung zum Rückzug gegeben haben. Man kann nur spekulieren, welchen geheimnisvollen Algorithmus die hohen Tiere in einer solchen Situation anwenden und welche Faktoren in ihre Überlegungen einfließen: die Zahl der teilnehmenden Aktivisten, die Zahl der zur Verfügung stehenden Polizisten, das Risiko, peinliche Berichte in den Medien auszulösen, das derzeit vorherrschende politische Klima im Allgemeinen … Doch wie auch immer, das Ergebnis ihrer Überlegungen lautete in unserem Fall, uns das Feld zu überlassen. Schon kurz darauf hatten
wir die Dreibeine quer über die Straße aufgestellt, anschließend nahm darauf jeweils ein Aktivist im weißen Schutzanzug Platz. Ihre Silhouetten zeichneten sich eindrucksvoll gegen den Himmel ab. Eine Gruppe gesellte sich zu den Aktivistinnen, die sich als Erste zusammengekettet hatten, um diese zu unterstützen. Während der nächsten fünf Stunden rollte kein einziger Tanklaster mehr über die Zufahrtsstraße, auf der sonst täglich im Schnitt um die siebenhundert Tankwagen unterwegs sind und dabei knapp 1,5 Millionen Liter Öl transportieren. Stattdessen verwandelten wir die Straße in eine große Party: Es gab Musik, Clowns, Fußball, als viktorianische Zombies verkleidete Stelzenläufer; Kinder aus den umliegenden Ortschaften fuhren auf ihren Fahrrädern herum, es wurden Netze aus Garn geknüpft, die Straße wurde mit Kreidegedichten verschönert, in regelmäßigen Abständen wurden kleinere Sprecherräte einberufen, die in der Hauptsache besprechen sollten, wann genau wir unseren Sieg verkünden und wieder zurück nach Hause fahren sollten.
    Es tat gut, zur Abwechslung mal gewonnen zu haben. Wir sehen uns einer Welt gegenüber, die von Sicherheitskräften beherrscht wird. Und von Minneapolis bis Straßburg scheinen es diese nur darauf angelegt zu haben, keinen Aktivisten jemals euphorisch und mit dem Gefühl, etwas erreicht zu haben, aus einer größeren Konfrontation zu entlassen. Unter diesen Umständen ist ein eindeutiger taktischer Sieg wahrlich nicht zu verachten. Nichtsdestoweniger hatte die ganze Aktion etwas Unheilverkündendes an sich. Die verstörende Ästhetik, durch die sich der Protest auszeichnete – mit den
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