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Kaltstart

Titel: Kaltstart
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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sagte:
    “Hier!”
    Jetzt hatte ich endgültig genug. Ich war mir sicher, dass Frieder mich verschaukelte.
    “Quatsch. Das ist eine Tonkassette. Das ist für Musik.”
    “Nein”, sagte Frieder, leicht verzweifelt, “die hier nicht. Da sind die Programme. Man kann schon was hören, aber keine Musik.”
    Ich muss ihn ungläubig angesehen haben, denn um mir vorzuführen, was man hören konnte, wenn es sich schon nicht um Musik handelte, steckte er die Kassette in den Recorder zurück, legte einen Schalter um, und drückte auf einen Knopf, der dem “Start”- Knopf am Recorder meines Bruders ziemlich ähnlich sah. Zuerst konnte man nur Rauschen hören, und ich fing an, mich zu entspannen. Drangekriegt, dachte ich. Ich bin doch nicht doof. Und dann hörte ich die Stimme Gottes. Sie war nicht schön. Aus dem Lautsprecher des Recorders kam ein Gequietsche und Gepfeife, als würde ein elektrischer Kanarienvogel zu Tode gefoltert. Wilde Modulationen, atonales Klangstaccato, schmerzhaft hohe Töne, die wie auf einer Klangachterbahn in meinen Ohren herumfuhren. Nein, das war keine Musik. Das war ... das war ... irgendwas. Ich suchte nach Begriffen. Ich tastete nach einer Idee. Ich wollte meine totale Ratlosigkeit irgendwie verpacken und verarbeiten, dass sie nicht mehr ganz so schrecklich wirkte. Frieder nahm meinen Schrecken wahr, und stellte die Quietschkiste ab. Dann war Stille. Nur um irgend etwas zu sagen, murmelte ich:
    “Was hat das gekostet?”
    “Eintausendachthundert Mark”, sagte Frieder stolz, und das war für mich das Sahnehäubchen auf diesem Alptraum. Ich war an Summen zwischen 5 und 20 Mark gewöhnt, sehr teure Dinge kosteten mehrere hundert Mark, aber dass diese drei Kisten auf dem Boden eintausendachthundert Mark gekostet haben sollten, verschlug mir völlig die Sprache.
    “Von meinem Vater. Hat er in Amerika bestellt.”
    Frieder, so wusste ich, hatte natürlich doch einen Vater. Einen abwesenden, ziemlich wohlhabenden Vater, der ab und zu in die Erziehung seines Sohnes eingriff, indem er ihm aus der Ferne teure Geschenke machte. Wie zum Beispiel “programmierbare” Taschenrechner. Und “Computer”, die wie sterbende Kanarienvögel klangen. Eintausendachthundert Mark. Es musste wahr sein.
    Bald darauf ging ich nachhause. Ich war so verblüfft, so an die Wand gespielt von der ersten Computerpräsentation meines Lebens, dass ich niemand daheim davon erzählte. Auf die Frage meiner Mutter, wie es gewesen sei, murmelte ich etwas Unverständliches. Ich ging in mein Zimmer, und tat das, was ich in aussichtslosen Situationen immer tat: ich las. Damals las ich Karl May, an diesem Tag dauerte die Lesesitzung mehrere Stunden, und abends um Neun war meine Welt wieder in Ordnung. Ich ahnte nicht, dass mich die Geschichte gestreift hatte, unabsichtlich zwar und nur mit dem kleinen Finger, aber dass mich schon das komplett überfordert hatte, und dass es sich bei der Verwirrung, die Frieder und sein Computer in mir ausgelöst hatten, um einen echten Kulturschock handelte.
    Die Klugscheißer werden jetzt einwerfen, dass diese Geschichte nicht wahr sein kann. Dass Zehn- oder Elfjährige 1978 im Hinterhof der Bundesrepublik nicht mit Computern herumspielten, geschweige denn “Programme” für sie schrieben, auch keine sehr einfachen. Darauf muss ich antworten, dass erstens Frieder seiner Zeit, mir und unseren Klassenkameraden in Mathematik und Naturwissenschaften immer um Längen voraus war, und dass es durchaus sein kann, dass er einer der ersten Kinder in Deutschland war, die in einem konkreteren Sinn mit Computern zu tun hatten. Leider fällt davon gar kein Abglanz auf mich selbst, weil, wie schon dargestellt, das alles weit jenseits meines Horizonts lag und sich aus dieser Begegnung mit Frieders prähistorischer Computerbegeisterung sogar eine unterschwellige Computerphobie entwickelte, wie mir Jahre später klar werden sollte.
    Was das für ein Gerät gewesen sein soll, das mir Frieder da zeigte? Theoretisch kommen vier Maschinen in Betracht: Der Apple I, der Apple ][, der TRS-80 von Radio Shack und der PET 2001 von Commodore. Von all diesen Computerfossilien kommt der TRS-80 meiner Erinnerung am nächsten. Deswegen entscheide ich mich für ihn. Die ganz Skeptischen sind immer noch nicht überzeugt. Sie zweifeln an meinem Bericht. Aber wie viel wahrscheinlicher als meine Erinnerung an die Stimme Gottes ist die Tatsache, dass das Handy auf meinem Schreibtisch eine weitaus größere Speicherkapazität hat
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