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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz
Autoren: Charlotte Freise
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Charlie winkte ihn heran und nahm ihm einen kleinen Stapel ab, um sich bei nächster Gelegenheit die nassen Schuhe mit dem Papier auszustopfen.
    Der Platz war schnell abgelaufen, das Riesenrad verdiente diese Bezeichnung nicht wirklich, und es stank nach Hopfen. Doch die bunt bemalten Schilder, Wimpel und Banner schienen immerhin ein wenig Vergnügen zu verheißen, und Charlie beschloss, das Freibier, das er sich von einem Mann mit speckiger Schürze zapfen ließ, zu genießen. Jetzt brauchte er nur noch einen trockenen Platz, wo er sich damit hinsetzen konnte. Seit heute früh um sechs war er auf den Beinen, und jetzt war es bereits später Nachmittag. Ungesehen schlüpfte er an einem verwaisten Kassiererhäuschen vorbei in ein Zelt.
    Drinnen standen im Dämmerlicht ein paar wackelige Stuhlreihen und vorne ein Piano, das jedoch nicht besetzt war. Auf einer kleinen Leinwand wurden alte Skladanowski-Schleifen gezeigt, laufende Bilder, die in unendlicher Wiederholung den immer selben Vorgang abspulten: ein Zug, der in der Ferne als winziger Punkt auftauchte, heranraste, um den Zuschauer in den Grund zu stampfen und dann in einem imaginären Raum hinter dem Zelt zu verschwinden, nur um erneut in weiter Ferne zu erscheinen und heranzurasen … ad infinitum.
    Obwohl kalte Luft durch den Eingang des Zeltes hereinzog, setzte Charlie sich in die letzte Reihe, um im Bedarfsfall schnell verschwinden zu können. Vor ihm saß ein Ehepaar in mittleren Jahren, beide ausladend und mit breiten Rücken. Die stehen gut im Futter, dachte er. Charlie hatte keine Lust, auf ihre Specknacken zu starren, und wandte sich den Handzetteln zu, die er dem Jungen abgenommen hatte. Im flackernden Licht der Leinwand versuchte er zu entziffern, was darauf stand, während er die Schuhe von den Füßen streifte.
Aufheiterung des Volkes … beseitigen. Im Jahr 1900 … das sich so seines Fortschritts rühmt …
Die Lampe des Projektors brannte mit einem unsteten Licht, mal heller, mal dunkler, der Stromversorgung schien das Wetter ebenso wenig zu behagen wie ihm selbst.
… Tendenzen des Mittelalters … priesterliche Anmaßung … untergraben unser Terrain … wollen unser Brot verdienen … Darbietung unschuldiger Vergnügen …
Charlie seufzte, knüllte zwei Blätter zusammen und stopfte sie in seine Schuhspitzen. Es sah nicht so aus, als ob sie hier noch jemanden brauchten, der ebenfalls sein Brot verdienen wollte. Eher so, als würde ihnen bald der Hahn abgedreht. Charlie lehnte sich zurück, starrte auf die Leinwand und trank sein Bier.
    In London hatte er mal eine Tretmühle in einem verborgenen Raum bedient, um ein gefälschtes Perpetuum mobile in Gang zu halten, da musste er vierzehn oder fünfzehn gewesen sein. Es durfte keinen Moment stillstehen, damit die Illusion der Wundermaschine, die sich selbst mit Energie versorgt, aufrechterhalten wurde. Der Antrieb war gut versteckt gewesen, aber irgendwann war er doch entdeckt worden. Dem Betrüger hatte man zu dem gelungenen Streich gratuliert. Und Charlie war entlassen worden. Es hatte nur ein paar Wochen gedauert, bis er seine Kammer unter dem Dach des stinkenden Hauses in Kensington nicht mehr bezahlen konnte. Und dann kam die Episode im Armenhaus, das Leben, das er und die anderen Jungen sich dort ausgemalt hatten, Träume von Glanz und Geld und einer grandiosen Zukunft … Die Augen halb geschlossen, lauschte Charlie dem Prasseln des Regens auf dem Zeltdach, dem Rattern des Projektors, betrachtete die Gestalten, die in dampfenden Mänteln in den Stuhlreihen vor ihm saßen. Im Gegensatz zu dem, was auf der Leinwand geschah, schienen sie leblos wie Figuren in Madame Tussauds Kabinett. Wie wäre es, wenn er in einen solchen Zug steigen könnte, auf und davon? … Dann würde er immer wieder dasselbe Stückchen Weg zurücklegen, ohne Entrinnen. Charlie verspürte kurz den Wunsch, dass der Filmstreifen riss und dieser absurde Film endlich zu Ende war, er wollte hier weg, aber er brachte nicht genug Energie auf, um das Zelt zu verlassen. Der Regen draußen wurde noch stärker, seine Lider wurden schwerer von dem gleichförmigen Geräusch und dem Bier. Wenn der Filmstreifen sich festfraß und vor der heißen Lampe in Flammen aufging, dann würde er aufstehen und gehen. Doch nichts geschah, es ging weiter rund und rund und rund. Verdammt, es musste doch einen Weg hier raus geben! Die Wut, die ohne Vorwarnung in Charlie hochbrandete, war so mächtig, dass er aufsprang, das Gleichgewicht verlor und
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