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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz
Autoren: Charlotte Freise
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unwirklich an, doch als er die Augen wieder öffnete, sagten sie ihm, dass es dennoch stimmte: Er hielt einhundert Reichsmark in der Hand, ausgestellt von einer privaten Notenbank. Er war reich. Und er konnte eine Hundertmarknote unmöglich in seine nasse Hose stecken, wo sie aufweichen und sich in nichts auflösen würde. Er steckte die Banknote zurück in die Brieftasche, er würde das verräterische Teil später loswerden, wenn er eine neue Brieftasche gekauft hatte. Charlie wartete darauf, dass sich ein Jubelschrei einstellen würde. Oder zumindest spürbare Freude. Doch nichts dergleichen geschah.
    Warum ließ ihn dieser unverhoffte Reichtum so kalt? Da war eine Ahnung, ein Verdacht. Was, wenn es kein Zurück mehr gab? Was, wenn man nicht mehr zu einem richtigen Leben taugte, nachdem man einmal auf der Straße gelebt hatte? All die goldenen Träume, die Mühen, die Hoffnungen, die Flucht, alles umsonst? Charlie schloss die Faust um die Münzen in seiner Tasche. Er würde sie lassen, wo sie waren. Besser, er verteilte seinen Reichtum, dann verlor er im Zweifelsfall nicht alles auf einmal.
    Neben der Schuppentür lag ein Stapel alter Zeitungen, von denen Charlie zwei nahm und daraus einen Regenhut faltete, den er über seinen alten, durchweichten Hut stülpte. So ausstaffiert ging er los, um sich zunächst einmal einen Regenschirm und eine warme Mahlzeit zu besorgen.
     
    Es war beinahe dunkel, als Charlie eine große Portion Pottwurst mit Linsen runtergeschlungen hatte und sich mit einer Serviette aus sauberem Leinen sorgfältig den Mund abtupfte.
    Seit Tagen war ihm zum ersten Mal warm, der Magen knurrte nicht mehr, und seine Kleider waren trocken. Die Weltuntergangsstimmung, die ihm vor wenigen Stunden noch im Nacken gesessen hatte, wich Heiterkeit. Ihm war nach Unterhaltung, nach Vergnügen. Charlie bezahlte, gab der Bedienung ein kleines Trinkgeld, was ihm eine beinahe überschwängliche Freude bereitete, und verließ das Bierlokal in der Ackerhalle.
    Sein Ziel war, wieder einmal, die Friedrichstraße. Er wollte sich treiben lassen. Aber diesmal würde es anders sein. Er würde Passanten beobachten, er würde seinen neuen Schirm im nun sanfteren Regen spazieren tragen und sich erneut die großen Theaterhäuser ansehen. Heute Abend würden sie ihm in einem ganz anderen Licht erscheinen, jetzt, da sie für ihn erreichbar waren. Heute würde er endlich in den
Wintergarten
gehen und sich eine Vorstellung ansehen.
    Charlie schlenderte unter den Laternen entlang, die Straßenzug für Straßenzug aufflammten. Der Weg zum
Wintergarten
war einer seiner allerersten Wege in Berlin gewesen, er hatte schon so viel über dessen gusseiserne Pracht gehört. Doch der
Wintergarten
war wegen Umbau geschlossen gewesen, die berühmte Glasdecke, die er so gerne gesehen hätte, wurde durch eine geschlossene Decke ersetzt. Man hatte ihn nicht einmal vorsprechen lassen, das Wiedereröffnungsprogramm stand bereits fest.
    Charlie hatte geglaubt, sein Talent, seine Erfahrung und das fast perfekte Deutsch, das er von seiner Mutter gelernt hatte, würden genügen, um in Berlin an einem der guten Häuser Fuß zu fassen. Das Problem war jedoch, dass er es nicht wagte, seinen richtigen Namen zu benutzen und dass er niemanden in Berlin kannte. Für einen winzigen Moment hatte er aufgeben wollen. Aber jetzt nicht mehr. Er würde sich erst Eintritt verschaffen – und dann Gehör.
     
    Der Kassierer im
Wintergarten
war ein dünner Mann mit Walrossbart und Monokel und sah Charlie zweifelnd an, als er einmal Loge verlangte. Doch als er Geld aus der Hosentasche zog und auf den Zahlteller legte, erhielt er ohne weitere Fragen den verlangten Platz.
    Der gutgekleidete Herr, mit dem er die Loge teilte, würdigte ihn keines Blickes, als er einen guten Abend wünschte und den zerfledderten Hut zog. Charlie lächelte, es war ihm egal, denn er würde es schaffen. Er setzte sich und blickte sich um, während er auf den Beginn der Vorstellung wartete.
    Die neue Decke im
Wintergarten
war beeindruckender, als er gedacht hatte – ein künstliches Sternenzelt aus Hunderten von elektrischen Lampen, die wie Diamanten auf schwarzem Samt lagen und den regenschweren Himmel aussperrten. Selbst als die Vorstellung längst begonnen hatte, wanderte Charlies Blick immer wieder von der Bühne nach oben, als erwarte er, Wolken vorbeiziehen oder einen Mond aufgehen zu sehen. Vielleicht wartete er auch auf eine Sternschnuppe, die ihm einen Wunsch gewährte.
    Nach einer
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