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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz
Autoren: Charlotte Freise
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rückwärts stolperte. Er wäre gestürzt, hätte er nicht ein Stück Stoff zu fassen bekommen, an dem er sich festhalten konnte.
    Der Mann vor ihm drehte sich um und plusterte sich zu noch beeindruckenderer Breite auf.
    «Na hörnse mal!»
    «Verzeihung.»
    Charlie ließ den Schal los, den er in den Händen hielt, blau mit orientalischem Muster, sicher aus Seide. Er fiel geräuschlos auf den feuchten Erdboden vor seinen Füßen.
    «Sie!»
    «Verzeihung», sagte Charlie noch einmal und bückte sich, um das edle Stück aufzuheben. Dabei sah er es: Etwas rutschte aus der Manteltasche des Schalbesitzers, lag zwischen den Stühlen, glänzend im Widerschein der Leinwand. Das Ehepaar starrte auf Charlie herab, als wartete es auf den Beginn einer Vorstellung. Das Etwas auf dem Boden war länglich, flach, schwarz.
    Charlie reichte den Schal nach oben, der Mann raffte ihn wortlos an sich und gab ihn seiner Frau, die ihn empört ausklopfte. Eine Sekunde lang war Charlie versucht zu erklären, dass er … ja, was eigentlich? Eigentlich ein angesehener Künstler war? Im Grunde gar kein mittelloser Vagabund in einer fremden Stadt war? Doch das Paar hatte sich bereits wieder zur Leinwand umgedreht und ignorierte ihn.
    Charlie hob den länglichen Gegenstand auf. Er hätte den Mann ansprechen können. Oder er hätte den Gegenstand auf den Stuhl neben ihn legen können. Er war weich und stabil zugleich, Leder, eine Art Etui. Charlie schob ihn in die Innentasche seines Jacketts. Dann waren es noch fünf Schritte, und er war draußen.
     
    Er rannte durch den Regen über den schlammigen Platz, die Greifswalder Straße entlang nach Norden, bog in eine beliebige Seitenstraße, dann in eine andere Seitenstraße, rannte weiter, übersprang Zäune und überquerte Hinterhöfe, bis er in einem Hof einen offenen Schuppen fand, wo er sich unterstellen konnte.
    Kaltes Licht fiel durch die Ritzen zwischen den Wandbrettern herein, und Charlie ließ sich auf das gestapelte Holz fallen. Scheite und Anmachholz kamen ins Rollen und rutschten zusammen mit ihm zu Boden, prasselten auf seine Beine und gegen seinen Rücken, trafen ihn am Kopf und zerkratzen seine Hände. Er wartete ergeben, bis die Lawine zum Stillstand kam. Als endlich Stille war, horchte er, noch immer bewegungslos, ob jemand kam, um nach den Rechten zu sehen und ihn zu vertreiben. Doch es kam keiner. Niemand war im Hof bei diesem Wetter, keine spielenden Kinder, keine Frauen, die Wäsche aufhängten, keine Hühner. Niemand, der Holz hacken wollte. Nicht einmal ein Hund. Wer konnte, war ins Trockene geflüchtet, und der Regen trommelte so eindringlich auf das Schuppendach, die Mülltonnen und die Gemüsebeete, dass Charlie wahrscheinlich um sein Leben hätte schreien können, ohne dass ihn jemand hörte.
    Charlie zog seine Beute aus der Jacketttasche und hielt sie in einen der schräg einfallenden Lichtstreifen. Er hatte richtig vermutet. Eine Brieftasche aus schwarz gelacktem Schlangenleder. Als er sie öffnete, formulierten seine Lippen die stumme Bitte, dass Geld darin sein möge, dass es reichen würde. Für ein paar gute Mahlzeiten, für ein paar Nächte in einem richtigen Bett, vielleicht für einen neuen Hut. Ach, allein die Brieftasche war so viel wert wie drei neue Hüte!
    Im ersten Fach fand er Visitkarten, aufwendig mit Goldrand und Porträt.
Braumeister Gustav Faust. Brauerei am Friedrichshain.
    Das konnte nur der Braumeister sein, der das Fest veranstaltete und von einem Affen Billetts für Freibier an die Besucher verteilen ließ. Man schien in dieser Stadt mit Bier eine Menge Geld verdienen zu können.
    Im nächsten Fach waren Münzen. Vier halbe Kronen und fünf silberne Reichsmark. Charlies Herz begann schneller zu schlagen. Da war genug, um wochenlang gut zu leben, wenn er es mit dem «gut» nicht übertrieb. Er fischte die Münzen aus der Brieftasche und verstaute sie tief in seiner Hosentasche. Es fühlte sich irgendwie falsch an, so viel Geld lose in der Tasche zu tragen, als ob man es jeden Moment wieder verlieren konnte, aber es wäre leichtsinnig, die Brieftasche zu behalten.
    Charlie hielt sie noch einmal näher ans Licht, fand ein weiteres, schmales Fach, beinahe unsichtbar unter einer Verblendung aus schwarzem Satin. Es enthielt einen einzelnen Zettel. Charlie zerrte seine eingeschlafenen Beine unter dem Holz hervor, um das Blut wieder zum Fließen zu bringen, schloss kurz die Augen, spürte das raue Papier zwischen den Fingern. Es fühlte sich vollkommen
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