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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz
Autoren: Charlotte Freise
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halben Stunde, in der er all den Samt und Marmor, die Lichter und Pracht um sich herum ausgiebig betrachtet hatte, war er endlich imstande, sich auf die Bühne zu konzentrieren.
    Die Akrobaten hatten nichts zu bieten, was er in London nicht schon virtuoser gesehen hatte, und darauf folgte eine kleine Farce über einen Detektiv und einen Jungen im Wandschrank. Charlie achtete darauf, wie die Spannung vor den Pointen zugespitzt wurde, wie sie gelöst wurde. Doch je länger er zusah, desto mehr fand er, dass der Detektiv zu betulich, zu wenig elegant war. Er hatte keinen Charme, keine Leichtigkeit. Er war kein Gentleman. Charlie fragte sich, ob er etwas nicht verstand. Der deutsche Humor sollte ja praktisch undurchdringlich sein, und das Publikum lachte, also musste es wohl lustig sein. Dennoch, er war sich sicher, dass selbst er die Rolle des Detektivs besser ausfüllen könnte, ob mit oder ohne Violine. Wenn man ihm nur eine Chance gab. Vielleicht sollte er ein paar Nächte durchschlafen und ordentlich essen, damit er nicht so abgekämpft aussah, und dann noch einmal um einen Vorsprechtermin bitten.
    Charlie schloss die Augen. Plötzlich spürte er, wie erschöpft er war. Hätte er, statt in den
Wintergarten
zu gehen, doch lieber gleich nach einem Zimmer gesucht. Wenn die Vorstellung zu Ende war, würde es zu spät dafür sein, er würde bis morgen warten müssen. Und die Aussicht, bei diesem Wetter eine weitere Nacht in einer Notunterkunft zwischen Flöhen, Läusen und Trinkern zu verbringen, schreckte ihn, jetzt, da er ein Zimmer ganz für sich allein bezahlen konnte. Wenn er nicht so müde gewesen wäre, wäre er jetzt aufgestanden und gegangen. Er sollte aufstehen, wirklich … vielleicht war es noch früh genug … um … oder vielleicht war es auch einerlei, wo er schlief … solange er sich nicht bewegen musste … Charlie war längst in eine Traumwelt abgedriftet, als er eine Stimme hörte, wie er sie noch nie zuvor vernommen hatte.
    Vor seinem inneren Auge stellten sich Bilder von schroffen Bergen in einer sternklaren Nacht ein, ein eiskalter Spiegelsee lag zwischen den Gipfeln. Es war Finsternis dort oben im Himmel und tiefste Einsamkeit und zugleich ein Übermaß an Schönheit, die Charlie die Tränen in die Augen trieb. Er begriff, dass er am Leben war, dass er hierhergehörte, in dieses Universum, unter diesen Himmel, und ganz gleich, wie allein er war, er würde nie wieder einsam sein, solange diese Stimme nicht aufhörte zu singen … Charlie riss die Augen auf, mit jagendem Herzen.
    Er begriff nicht gleich, dass das junge Mädchen auf der Bühne diejenige war, der diese überirdische Stimme gehörte. Wie konnte ein so junges Wesen so erschreckend wahrhaftig von Charlies Innerstem singen?
    Irritiert blickte er auf seinen Programmzettel. Henriette Keller.
    Das Mädchen auf der Bühne war Wirklichkeit, keine Einbildung seines übermüdeten Geistes. Er wusste, dass er sich für den Rest seines Lebens an ihren Namen erinnern würde.
    Henriette Keller stand beinahe still, bannte seinen Blick nur mit Andeutungen von Bewegungen, eine knappe Geste, ein einzelner Finger, die Haltung von Hals und Kopf, die Augen. Es waren nur Winzigkeiten, aber im Ausdruck so stark, so mesmerisierend. Zweifellos, sie hatte ihre ganz eigene Magie. Sie spielte nicht die Sängerin, sie
war
nicht einmal die Sängerin. Sie war der Gesang selbst, sie war die Welt, die er in seinem Innern gesehen hatte, und dadurch waren sie und er auf eine unerklärliche, aber unleugbare Art eins.
    Charlie wusste, dass sie nicht empfinden konnte, was er empfand, sie wusste ja nicht einmal, dass er existierte. Und doch fühlte er dieses Verbindung, ihre Stärke, ihre Unverbrüchlichkeit. Es war, als habe er eine Brücke entdeckt, als sei die Trennung zwischen ihm und ihr nur eine Illusion, die er durchschaut hatte. Musste sie nicht auch spüren, dass soeben etwas von kosmischen Ausmaßen geschehen war, etwas, das seine Seele für immer mit ihrer verband?
    Charlie rutschte in seinem Sessel nach vorne, schüttelte ungläubig den Kopf. Das alles war romantischer Unsinn. Der sich dennoch real anfühlte, und absolut gewaltig. Ging es den anderen Menschen im Saal ebenso, oder hatte dieser Schicksalsschlag nur ihn getroffen? Er riss den Blick von Henriette Keller los und schaute sich um.
    Die Zuschauer waren gebannt, alle miteinander, auch Charlies feiner Sitznachbar schien den Zauber zu fühlen, denn er beugte sich weit vor, ein Opernglas vor den Augen, die
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