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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz
Autoren: Charlotte Freise
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Ellenbogen auf die Balustrade gestützt. Charlie empfand einen eifersüchtigen Stich, so als gehöre Henriette Kellers Gesang ihm allein. Er stand sogar auf, um ihr näher zu sein, ihren Gesichtsausdruck, ihre Haltung studieren zu können. Jetzt war er wieder vollkommen wach, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie die ganze Nacht gesungen. Doch nach nur drei Liedern war der Zauber vorbei, und das Publikum, eben noch ganz Ruhe vor dem Sturm, wurde zur begeistert tosenden See.
    Als Fräulein Keller die Bühne für die komische Nummer nach ihr freigab, erhob sich der Herr neben Charlie und verließ leise die Loge. Vielleicht war er nur wegen Fräulein Keller hier, das wäre absolut verständlich gewesen.
    Charlie seufzte glücklich, lehnte sich, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, in seinem Sessel zurück, schloss erneut die Augen, lauschte auf das Gelächter im Saal und den Applaus. Er stellte sich vor, er würde dazugehören, zu dieser amorphen Masse aus ganz normalen Leuten mit ganz normalen Familien, bevor sein Geist zu Henriette Keller zurückkehrte.
    Jetzt stand sie am Ufer jenes Sees unter dem unendlich schwarzen Himmel und sah ihn aus unendlich schwarzen Augen an. Und auf unerklärlich angenehme Weise löste Charlie sich auf und verschwand im Dunkel.
     
    «Macht gefälligst das Saallicht wieder an! Wie soll ich putzen ohne Licht!»
    Charlie fuhr hoch. Alles blieb schwarz. Wo war er?
    Eine nach der anderen erschienen ganze Sektionen von Sternen am Firmament, und Charlie begriff, dass er noch immer im
Wintergarten
war. Der Saal war leer.
    Nur auf der Bühne war noch jemand, ein Junge von vielleicht zwölf Jahren, und schwang den Mob. Er war barfuß, die Hosenbeine zerrissen. Wahrscheinlich durfte er nachts hinter der Bühne schlafen. Und bekam morgens Kaffee und zwei Schrippen mit Wurst. Charlie hatte trotz der Pottwurst schon wieder Hunger, eine Sekunde lang beneidete er den Jungen um seine Arbeit, bevor ihm wieder einfiel, dass er reich war. Er streckte den vom Sitzen steifen Rücken. Zeit, zu gehen und sich einen bequemeren Platz zu suchen.
    Doch das Foyer war bereits dunkel, der Eingang verschlossen, er musste lange über das Ende der Vorstellung hinaus geschlafen haben. Charlie überlegte kurz. Mit etwas Glück waren die Künstler noch in den Garderoben, schminkten sich ab, zogen sich um, und er konnte mit ihnen zum Bühnenausgang hinausschlüpfen.
    Zurück im Saal, stieg er betont selbstverständlich mit einem großen Schritt auf die Bühne und grüßte den Jungen mit einem Nicken. Eigentlich hatte er durch die Gasse nach hinten durchgehen wollen, als ob er dazugehörte. Doch dann blieb er stehen.
    «Wie heißt du?», fragte er den Jungen.
    «Willem», nuschelte der.
    Charlie griff in die Hosentasche und drückte dem Jungen etwas von dem Wechselgeld in die Hand, das er an der Kasse erhalten hatte.
    «Hier. Kauf dir Schuhe.»
    Willems Grinsen war so breit, dass es seinen Kopf in zwei Hälften zu teilen schien.
    «Wo ist eigentlich der Künstlerausgang?», fragte Charlie.
    «Hinten lang und dann zweimal nach rechts.»
    Charlie wollte sich an den Hut tippen. Erst jetzt merkte er, dass er ihn, zusammen mit seiner Zeitungshaube, in der Loge vergessen hatte. Nur der Schirm hing unverändert an seinem Arm, als wäre er ein Teil seiner Anatomie geworden. Einerlei, er brauchte ohnehin einen neuen Hut, bis morgen früh würde er ohne das alte Ding auskommen. Er ging durch die Gasse, eine Treppe hinab und den Gang hinter der Bühne entlang. Es fühlte sich gut an, seinen Reichtum mit einem Jungen zu teilen, der ihn an sich selbst erinnerte. Dennoch musste er aufpassen, sparsamer sein. Auf diese Weise würde das Geld nicht lange reichen.
    Aus den Garderoben drang das fröhliche Geschnatter einer Mädchenschar. Das musste die Tanzkompanie sein, die vorhin aufgetreten war, lauter unbegreiflich hübsche, talentierte Wesen. Nicht so talentiert wie Henriette Keller, aber dennoch … vielleicht sollte er sie ansprechen, versuchen, sich mit ihnen anzufreunden. Möglicherweise konnten sie ihm sagen, mit wem in Berlin man sprechen musste, um ein Engagement zu bekommen. Doch nach kurzem Überlegen entschied er sich gegen einen Versuch. Noch war er zu abgerissen, und er fürchtete, dass sie ihn nicht ernst nehmen würden. Er drückte sich an den hin- und herlaufenden Mädchen vorbei, passierte eine Truppe schnurrbärtiger, bleicher Jongleure und ließ eilig einen weiteren schmalen Mädchenrücken hinter sich.
    «Oh,
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