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Blankes Entsetzen

Blankes Entsetzen

Titel: Blankes Entsetzen
Autoren: Hilary Norman
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1.
    Die ganze letzte Februarwoche hindurch lag die Leiche unter einem Stapel Säcke am Boden eines verlassenen Schuppens in einem Schrebergarten bei Claris Green im Londoner Stadtteil Barnet. Kaum ein Jahr zuvor waren auf diesem winzigen Stück Land noch Pflaumen, Tomaten, Erdbeeren und die unterschiedlichsten Blumen gediehen, doch dann verstarb der Besitzer des Gartens, und während des langen Wartens auf einen neuen Pächter waren die Pflanzen verwelkt, unter Unkraut erstickt oder von Spinnweben überzogen worden, und Vandalen hatten sich einen Spaß daraus gemacht, eine Wand des Schuppens einzuschlagen.
    Da Spätwinter war und kein neuer Pächter in Sicht, war die Leiche bereits acht Tage unentdeckt geblieben. Nur ein großer, glatter, gesprenkelter Kieselstein, den ein gelangweilter Rowdy durch die zerbrochenen Holzplanken in den Schuppen geschleudert hatte, lag jetzt auf dem Sack direkt über dem linken Schenkel der toten Frau.
    Als man sie dann endlich fand, löste der Anblick der Toten bei jedem, der das Pech hatte, sie zu sehen, Ekel und Entsetzen aus. Trotz der fortgeschrittenen Verwesung der Leiche zu diesem Zeitpunkt konnte die Identifizierung rasch erfolgen, denn Lynne Frances Bolsover war sieben Tage zuvor von ihrem Mann als vermisst gemeldet worden. Da man sie seither weder gesehen hatte noch ihre VISA-Karte benutzt worden war, war die Sorge um sie ständig gewachsen. Darüber hinaus wurde zwar Mrs Bolsovers schwarze Ledertasche nie gefunden (ihr Mörder hatte sie kaum eine Meile von dem Schrebergarten entfernt, in der Franklin Road, in einen Müllcontainer geworfen), doch sie trug immer noch ihren roten Pullover und die Bluejeans mit dem Flicken in Gestalt einer Siamkatze auf der rechten Hintertasche. Neben den zahnärztlichen Unterlagen der als vermisst gemeldeten Frau würden diese Kleidungsstücke der Polizei die Sache erleichtern.
    Der Familie Bolsover dagegen natürlich nicht.
    Der Pathologe würde zu gegebener Zeit feststellen, dass die neunundzwanzigjährige Ehefrau John Bolsovers und Mutter der sechsjährigen Kylie und des vierjährigen Alex an einer massiven Gehirnblutung gestorben war, nachdem man ihr den Schädel mit drei Schlägen auf den Kopf zertrümmert hatte. Die Morduntersuchung, die das Ermittlungsteam der Polizei – das Area Major Investigation Team, kurz AMIT – bereits in die Wege geleitet hatte, würde mit Volldampf abgewickelt und aller Wahrscheinlichkeit nach schnell abgeschlossen werden. Denn die AMIT-Beamten würden rasch herausfinden, dass Mrs Bolsovers Hausärztin Dr. Deirdre Miller ihr vor kurzem Prozac verschrieben hatte, um Lynnes Depressionen zu lindern, unter denen sie seit einer Abtreibung ein Jahr zuvor litt; dass eine Apotheke unweit des Reihenhauses, in dem die Bolsovers lebten, die Verstorbene regelmäßig mit Arnikasalbe für ihre blauen Flecken beliefert hatte; dass laut Pam Wakefield (Lynnes Schwester) und Valerie Golding (ihrer Nachbarin) Lynne regelmäßig tyrannisiert, angeschrien und fast mit Sicherheit auch geschlagen worden war, und zwar von John Bolsover, ihrem Mann; und dass es – diese Information kam von ihrer Schwester Pam – ebenfalls John gewesen war, der auf dem Schwangerschaftsabbruch bestanden hatte, der wiederum Auslöser für Lynnes Depressionen gewesen war.
    Bolsover würde mehrere Male verhört, dann verhaftet und wegen des Mordes an seiner Frau angeklagt werden.
    Allerdings würde er nie ein Geständnis ablegen.
    Weil er unschuldig war.

2.
    Die meisten Leute sahen sich zu der Feststellung veranlasst, dass Lizzie Piper Wade eine beneidenswert glückliche Frau war.
    »Außer der Sache mit dem armen Jack natürlich«, fügten diejenigen hinzu, die von der Muskeldystrophie ihres mittleren Kindes wussten. »Obwohl selbst das leichter für sie sein muss als für andere Frauen.«
    »Andere Frauen« waren diejenigen, die das Pech hatten, nicht mit dem Arzt und Chirurgen Christopher Wade verheiratet zu sein.
    Das Leben hatte Lizzie gelehrt, ihr Glück zu schätzen und trotz Jacks schrecklicher Krankheit für viele Dinge dankbar zu sein. Sie war dankbar für Jacks Mut und seinen Humor, seine Intelligenz und Selbstachtung und – vielleicht das Wichtigste – für sein unerschütterliches Vertrauen in die bedingungslose Liebe seiner Familie. Sie war dankbar, dass der zwölfjährige Edward so gesund war wie Sophie, die im März sieben würde; allerdings würden die Zukunft – und verschiedene medizinische Untersuchungen im Teenageralter – erst
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