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Kalter Schlaf - Roman

Kalter Schlaf - Roman

Titel: Kalter Schlaf - Roman
Autoren: A J Cross
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meisten jung. Aus England, Italien, Deutschland, den USA , Kanada, Australien. Ohne geografische Grenzen. Ich hätte Ihnen noch viele, viele weitere zeigen können.« Einige Sekunden Pause. »Sie und diese neunundzwanzig jungen Frauen warten. Sie warten darauf, dass wir Kriminologen ihnen etwas geben.«
    Weil sie wusste, dass die Studenten an ihren Lippen hingen, ging Kate zu dem Laptop zurück. »Diese jungen Frauen sind deshalb zu Opfern geworden, weil ihre Wege sich zufällig mit Männern« – nochmals ein Tastendruck – »wie diesen gekreuzt haben.«
    Auf dem Großbildschirm erschien eine Reihe von Männergesichtern. Viele der Studenten holten erschrocken Luft, dann folgte allgemeines Gemurmel.
    »Sie werden bestimmt nicht alle erkennen, aber ich gehe jede Wette darauf ein, dass es in diesem Hörsaal niemanden gibt, der nicht mindestens fünf der Abgebildeten benennen kann.« Sie wartete.
    Schweigen.
    »Ich hätte gewonnen«, sagte sie ruhig. »Merkwürdig, nicht wahr, dass wir Personen, die grausame Verbrechen verüben, besser kennen als ihre bedauernswerten Opfer?« Sie nickte, als sie auf vielen Gesichtern ein verlegenes kleines Lächeln sah. Kate richtete den Laserpointer auf die Brustbilder. »Alle diese Männer sind oder waren Raubtiere. Leben sie noch und fänden erneut Gelegenheit, würden sie weitere Gewalttaten wie die verüben, deretwegen sie hinter Gitter gewandert sind.«
    Sie sah zu den Fotos hoch, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Studenten. »Wir brauchen uns keine Vorwürfe zu machen, wenn das Gesicht des Täters eher Erkennen auslöst und unser Interesse weckt als das seines Opfers. Zu großen Teilen dafür verantwortlich sind die Medien. In allen ihren Formen.«
    Kate schwieg einige Sekunden lang. »Bevor Sie Ihr Studium bei mir aufnehmen, möchte ich Ihnen einen Rat geben. Er lautet folgendermaßen: Vergessen Sie die erfundenen Verbrechen und die Krimis, die das Fernsehen oder Hollywood Ihnen gezeigt haben. Vergessen Sie vor allem die weit verbreitete Theorie, dass die Aktivitäten eines Mörders auf einen bestimmten Opfertyp fixiert sind, von dem der Täter später niemals mehr abweicht.«
    Eine weitere Pause.
    »Natürlich haben Sexualstraftäter ihre Vorlieben, aber sie sind weit davon entfernt, sich gegenüber all ihren Opfern stereotypisch gleich zu verhalten. Dass sie das angeblich immer tun, ist in den letzten zwei Jahrzehnten leider zu einer vorherrschenden Überzeugung geworden, weil es spannende Bücher, Fernsehkrimis und Filme ermöglicht. Aber das ist auch schon alles. Wir müssen uns davor hüten, auf der Grundlage unzuverlässiger Theorien allzu bequeme Schlüsse zu ziehen.«
    Ihr Blick glitt über ihre Zuhörer. »Straftäter sind keineswegs so festgefahren, wie man vielleicht glauben würde.« Kate trat einige Schritte auf ihre Studenten zu. »Warum nicht?« Sie senkte die Stimme. »Weil die Fantasien dieser Männer sich verändern . Und weil sie sich wie wir alle anpassen. Sie lernen«, fügte sie noch leiser hinzu. »Und genau das wird in den kommenden Wochen auch hier passieren, hoffe ich.«
    Der Glockenschlag vom Chamberlain Tower hallte über den üppig grünen, für Ende September ungewöhnlich heißen Campus und in den Hörsaal. Keiner der Studenten bewegte sich.
    »Ich habe gesagt, dass die jungen Frauen, deren Fotos ich Ihnen vorhin gezeigt habe, etwas erwarten. Von Ihnen und von mir. Aber worauf warten sie?«
    Sie hörte mehrere Antworten, die aus einem einzigen Wort bestanden, und nickte dankbar. »Richtig. Und wenn Sie später als Kriminalisten arbeiten, wird es weitere Opfer geben. Dann müssen Sie unvoreingenommen arbeiten und verlässliche Theorien anwenden, um ihnen die Gerechtigkeit zu verschaffen, auf die sie warten.«
    Kate musterte ihre Zuhörerschaft erneut, bevor sie den nächsten Hauptpunkt betonte. »Diese Männer hören niemals auf«, sagte sie ruhig. »Weil ihr Verhalten von tiefen psychologischen Bedürfnissen gesteuert wird. Dass sie eine Zeit lang pausieren, ist nicht ungewöhnlich. Vielleicht ein Jahr, vielleicht länger.« Sie schwieg kurz. »Aber verlassen Sie sich darauf: Irgendwann machen sie weiter.«
    Im Hörsaal herrschte Schweigen, dann wurde zögernd eine Hand gehoben.
    »Ja?«, fragte Kate.
    »Weshalb? Warum … pausieren sie?«
    Kate lächelte der ratlosen Studentin zu. »Für eine angehende Kriminologin gehört ›warum‹ zu den stärksten Wörtern überhaupt.«
    Sie kehrte an den vorderen Rand des Podiums zurück.
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