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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten
Autoren: Ralph Westerhoff
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werden schien.
    Zu Hause wartete Caroline. Vielleicht würde Lydia wenigstens sie »Mama« nennen. Vielleicht würde sie zumindest ihre Mutter in den Arm nehmen. Vielleicht. Hoffentlich.
    Noch etwa zwanzig Kilometer, und sie wären in Graal-Müritz in ihrem mit Reet gedeckten Haus, das sie 1994 günstig gekauft hatten. Nur wenige Minuten zu Fuß zur Ostsee. Dort lag auch ihr kleines Segelboot. Wie lange war es schon her, dass sie damit »auf große Fahrt« gegangen waren? Einmal waren sie, ganz vorsichtig, immer in Ufernähe, zu zweit bis nach Rügen gesegelt. Dort hatten sie ein Zelt aufgebaut. Richtig romantisch wild gezeltet, wie man das in Bayern nannte. Wie lange war das schon her?
    Graal-Müritz. Ein Urlaubsparadies an der Ostsee. Sie durften dort leben. Im Paradies. Doch für Lydia war es die Hölle. Sie wollte nicht zurück in die Hölle, das wusste er. Sie wollte wieder in ihr eigenes Paradies. Wieder die bunten Lichter sehen. Sie sehnte sich nach dem Musikerlebnis, das nur sie hatte. Niemand sonst. Nur im Rausch konnte sie die wahre Schönheit der Musik erleben, die Intensität der Klänge sehen. Ja, wirklich. Sie konnte die Musik sehen, wenn sie in ihrem Garten Eden war. Die Klänge gingen ins Ohr, und dann erschienen Bilder. Schöne, bunte, faszinierende Bilder.
    Irgendwann wurde sie dann immer müde. Eine bleierne, entspannende Müdigkeit breitete sich in ihr aus, die sie sanft aus der feindseligen Umgebung holte und in ein buntes, schönes Wunderland entführte. Es war perfekt dort im Wunderland. Großartig. Und es war ihr egal, dass die Reise dorthin manchmal auf einer vollgepissten Matratze im Keller einer miesen Absteige begann. Völlig egal.
    Lydia sehnte sich nach ihrem Wunderland. Und das Elysium lag ganz sicher nicht in Graal-Müritz. Aber auch nicht mehr in München. Das Dorado ihrer Sehnsüchte war überall, wenn sie es nur wollte. Das Ticket dorthin kostete um die hundert Euro. Im Grunde ein Schnäppchen. Eine Art Last-Minute-Reise in eine andere Welt. Der Jet bestand aus weißem Pulver. Die Maschine stand bereit. Man wartete nur noch auf sie als letzten Passagier. Sie musste nur noch einchecken.
    An einer Kreuzung mitten in Rostock stieg sie ohne Vorwarnung aus dem Corolla. Wolfgang versuchte nicht einmal, sie daran zu hindern. Wie hatte Staatsanwalt Günter Menn, der einzige Mensch, der in dieser Sache jemals ehrlich zu ihm gewesen war, doch so richtig gesagt, lange bevor sie wussten, dass Lydia auf Droge war? »Wolfgang, der einzige Grund, warum ich noch keine Drogen genommen habe, ist der, dass ich genau weiß, dass ich dieses Gefühl dann immer würde haben wollen. Vielleicht rauben wir mit unserer Forderung, ein Junkie müsse clean werden, diesem nur noch den letzten Rest seines bisschen Glücks. Wir wissen alle, dass ein Junkie tot ist. In einem Jahr, in zwei Jahren, in einem Monat oder schon morgen. Den Entzug schaffen auf Dauer doch sowieso nur die, die nicht voll auf Droge waren. Wer richtig drauf ist, will im Grunde nicht mehr runter, oder er kann es nicht. Eigentlich sollten wir ihm dieses bisschen Glück doch gönnen. Etwas anderes hat er nicht. Etwas anderes will und wird er auch nicht mehr erleben.«
    Als Lydia das Auto verließ, wurde Wolfgang diese grausame Wahrheit schmerzhaft bewusst. Er wusste nur nicht, wie er es Caroline beibringen sollte. Sie mussten sich wohl damit abfinden, dass Lydia gestorben war. Bald.
    ***
     
    Günter Menn saß an seinem Schreibtisch und erledigte die letzten Handgriffe für heute. Sein Büro an der Doberaner Straße war zweckmäßig eingerichtet. Es gab einen Bürostuhl, einen ziemlich veralteten Schreibtisch, eine kleine Besprechungsecke mit einem Tisch und drei Stühlen, einen Schrank und ein Sideboard für Akten. Jeder halbwegs erfolgreiche Anwalt hätte das Mobiliar längst in den Sperrmüll gegeben. Selbst der Tresor, in dem er sehr wichtige Akten aufbewahrte, war ein altertümliches Modell.
    Auch das Gebäude an sich war nicht sonderlich repräsentativ. Im Gegenteil: ein Betonbau im typischen Stil der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Wenn er die Fenster öffnete, drang der Verkehrslärm ungehindert in sein Arbeitszimmer.
    Aber trotzdem war er ein durch und durch zufriedener Mensch. Auch er war im Zuge der Wiedervereinigung und dem damit einhergehenden Aufbau der Behörden aus Westdeutschland in den Osten gespült worden. Auch er hatte die Chance genutzt, die sich ihm bot. Im Gegensatz zu Wolfgang Franke war er jedoch
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