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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten
Autoren: Ralph Westerhoff
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sie dabei ertappen, verschlang sie die Zeilen. Sie las sie so oft, bis sie sie schließlich auswendig konnte.
     
    Meine verehrte Wiebke,
    darf ich mir erlauben, Sie beim Vornamen zu nennen? Imaginär sind Sie mit mir schon zu oft ausgegangen, als dass ich es in der Realität noch unversucht lassen könnte. Die gedankliche Vorstellung allein war überwältigend. Machen Sie mir doch die Freude, mit mir heute Abend im Restaurant zu speisen. Ich kann Ihnen versichern, dass ich diese Einladung ohne jeden Hintergedanken ausspreche. Ich bin ein glühender Vertreter der alten Schule. Und ein ebenso glühender Verehrer Ihrer Person. Wenn ich Sie mit diesem Ansinnen nicht zu sehr überrumple, freue ich mich, wenn Sie die Zeit finden, mich anzurufen.
     
    Mann, so wunderschön altmodisch hatte sie schon lange niemand mehr um ein Rendezvous gebeten. Es war ohnehin schon Jahre her, dass sie mal einer eingeladen hatte. Seit vielen Jahren war sie allein. Der Beruf machte es schwer, eine Beziehung aufzubauen. Er verhinderte, dass die zarte Pflanze der Zuneigung durch kleine Aufmerksamkeiten wachsen und gedeihen konnte. Die Folge war absehbar: keine Beziehung und kaum Sex.
    Wenn sie mal Sex hatte, dann meist mit einem, der wie sie wieder einmal das Gefühl brauchte, noch begehrenswert zu sein. Keine großen Gefühle, keine Beziehung, kein Stress.
    Sie wollte aber endlich wieder große Gefühle. Sie sehnte sich nach einer Beziehung. Ja, sogar ein bisschen Stress mit einem geliebten Partner wäre ihr im Moment recht. Immer noch besser, als jeden Abend Minka, ihrer weißen Siamkatze, zu erzählen, wie sie sich fühlte.
    Sie freute sich wirklich. Wiebke griff zum Telefon, rief ihn an und sagte zu. In ein paar Stunden würde sie mit Thomas Schulte in einem Restaurant sitzen und plaudern. Und sie würde ihn ins Bett kriegen, diesen etwas verklemmten, süßen Seelenklempner. Bereits der Gedanke daran erzeugte bei ihr dieses undefinierbare Verlangen im Bauch. Dieses Kribbeln, das sich auf den ganzen Unterleib ausbreitete. Sie schämte sich nicht einmal.
    Er hatte sie schon oft imaginär ausgeführt? Sie war weiter. Sie hatte ihn schon oft in Gedanken verführt. Nach allen Regeln der Kunst. Diese Kunst beherrschte sie. Sie hatte sie jedenfalls mal beherrscht. Ach was, das ist wie Fahrradfahren, dachte sie. Wenn man’s einmal kann, verlernt man es nicht.
    Sie pfiff gedanklich auf alle Konventionen und zugleich laut ein Lied, während sie nach Hause ging, um sich umzuziehen.
    ***
     
    Kein Wort hatte sie für ihn übrig. Nur bleischweres, quälendes Schweigen. Wolfgang senkte den Blick. Lydia hatte ihm die Hand gegeben, als er sie im Foyer der Klinik abgeholt hatte. Wie sie vermutlich sogar einem wildfremden Taxifahrer die Hand gegeben hätte. Aber sie hatte nichts gesagt. Sie drückte ihre Verachtung, ihren Hass, einfach durch Ignorieren aus.
    »Wie geht es dir, Sonnenschein?«, hatte er gefragt. Sie hatte geschwiegen, auf ihren Koffer gezeigt und war wortlos durch die Kliniktür hinausgegangen.
    Wolfgang verstaute das Gepäck im Kofferraum. Lydia hatte sich bereits stumm auf den Beifahrersitz gesetzt. Er stieg ein, schnallte sich an und sagte – mehr aus erlerntem Reflex, als um sie wirklich zu maßregeln: »Schnallst du dich bitte an?«
    Der ausgestreckte Mittelfinger und das demonstrative Wegdrehen des Kopfes waren eine nicht verbale, aber nichtsdestotrotz eindeutige Antwort.
    Wolfgang atmete tief ein und aus. Er startete den blauen Toyota Corolla und fuhr los. Lydia starrte unbewegt aus dem Seitenfenster.
    Nach vielleicht fünf Minuten, die ihm aber wie Stunden vorkamen, versuchte er es erneut. »Wahrscheinlich sind wir bald wieder in München«, log er. Ach was, die konnten ihn mal kreuzweise mit ihrem Beamtenjob. Seine Familie war jetzt wichtiger. Also, wenn es Lydia helfen würde, wären sie bald wieder in München. Ganz sicher!
    Lydia zuckte nicht einmal. Sie hob ihre Hand zum Autoradio, suchte einen Sender und drehte den Lautstärkeregler bis zum Anschlag auf. Wolfgang verabscheute die Art von Musik, die sie ausgewählt hatte. Ihm war klar, dass sie sie genau deswegen hörte.
    Zwei Wochen lang wurde sie entgiftet. Dass die Klinik und Poliklinik überhaupt ein Bett für sie hatten, war nur der Fürsprache seines Chefs beim Staatssekretär, der wiederum gute Kontakte zur Klinikleitung hatte, zu verdanken. Lydia schien nicht sehr dankbar zu sein. Selbst jetzt, wo es doch vorbei war. Wo sie wieder gesund war. Wo alles wieder gut zu
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