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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten
Autoren: Ralph Westerhoff
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Kollegin Wiebke Sollich teilte, lag im dritten Stock des insgesamt sechs Stockwerke umfassenden Backsteinturms, in dem sich die Kriminalpolizeiinspektion befand. Unter ihm fuhren die Autos. Rechts konnte er das Steintor, eines der drei verbliebenen massiven Landtore der ehemaligen Stadtbefestigung, sehen. Er blickte nach links über den Friedrich-Engels-Platz in Richtung Rosa-Luxemburg-Straße. Trotz der sozialistisch anmutenden Namen erstreckte sich dort der Teil der Stadt, wo das gehobene Bürgertum in liebevoll restaurierten Jugendstilvillen wohnte. Doch er nahm das alles nicht wirklich wahr. Ein Gedanke beherrschte ihn völlig. Gleich würde er seine Tochter abholen.
    Lydia. Sein Sonnenschein, wie er sie immer genannt hatte und noch heute gerne nennen würde. Doch die Sonne hatte aufgehört zu strahlen. Und der Sonnenschein bezeichnete ihn als »Scheißbullen«.
    Als sie zum Januar 1993 nach Rostock umgezogen waren, war Lydia gerade dreizehn geworden. Ein gesundes bayerisches Madel, würde man im Süden sagen.
    Als Bauerntrampel hatte man sie hier verunglimpft. Lydia hatte nun einmal eine bayerische Sprachfärbung. Sie nannten sie deswegen »Heidi«, fragten sie, ob ihr Großvater auch ein »Alm-Öhi« sei und wie man denn Ziegen melken würde.
    Bitterste Tränen hatte sie geweint. Angefleht hatte sie ihn und seine Frau Caroline, wieder zurückzugehen. Weg von dem großen reetgedeckten Haus, zurück in die kleine Wohnung in Ottobrunn südlich von München. Weg von der Ostsee, zurück zu den Alpen. Keine öden Segeltörns, sondern Bergwanderungen im Sommer. Keine langweiligen Spaziergänge an den nassen und grauen Tagen hier, sondern Skifahren auf den weißen Pisten unter blauem Himmel im Winter.
    Er hatte sie ignoriert. Er war egoistisch.
    Sie werden Lydia schon akzeptieren, hatte er gedacht. Es braucht nur Zeit. Doch das war Selbstbetrug. Das wusste er heute. Die Mauer in den Köpfen war Anfang der neunziger Jahre noch mindestens so hoch gewesen wie die Berliner Mauer vor dem 9. November 1989. Seinen Erwartungen zum Trotz wurde sie nicht niedriger. Wessi blieb Wessi und Ossi blieb Ossi. Wer nicht Ossi war, wurde ausgegrenzt. Und wer sich als Wessi dann noch den Luxus eines Dialektes leistete, war per se unten durch. Eine Steigerung wäre nur noch drin gewesen, wenn sie Schlitzaugen gehabt hätte. Die »Fitschis«, wie Asiaten hier genannt wurden, standen auf der sozialen Leiter noch unter Wessis mit bayerischem Akzent.
    Sie war deswegen während ihrer Schulzeit viel allein gewesen. Viel zu viel allein. Wer allein ist, gerät in die Fänge falscher Freunde. Sein Sonnenschein rutschte ab. Am Anfang war es nur die äußere Auflehnung durch knallrot gefärbte Haare, schlampige Kleidung und aufsässige Reden, was ihn störte. Aber welches pubertierende Mädchen lehnt sich nicht gegen das Elternhaus auf?
    Dann dieser unglaubliche schulische Leistungsabfall. Doch war das nicht auch normal, wenn ein junger Mensch zwischen Kindheit und Erwachsenwerden mal vorübergehend die Lust am Lernen verlor? Völlig normal. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.
    Als seine Kollegen von der Streife sie zum ersten Mal aufgriffen, war es bereits zu spät. Das war vor zehn Jahren gewesen, damals war sie gerade einundzwanzig geworden. Natürlich wusste er zu dieser Zeit schon, dass sie ab und zu, wie er dachte, einen Joint rauchte. Doch vor der grausamen Realität hatte er die Augen verschlossen. Lydia war heroinsüchtig geworden. Sie war auf der schiefen Bahn, und die Geschwindigkeit des Absturzes sollte von Tag zu Tag zunehmen.
    Lydia war irgendwann völlig abhängig von dieser grausamen Substanz gewesen, völlig zugedröhnt durch den wahrscheinlich x-ten Heroinschuss. Apathisch, abgemagert, willenlos. Sein Sonnenschein hatte aufgehört zu strahlen.
    Vor gut zwei Wochen hatte Lydia sich in einer üblen Wohnung am Rande Rostocks zusammen mit Freunden – oder besser: Leidensgenossen – einen Schuss gesetzt.
    Wolfgang hatte nie geglaubt, dass Lydia diese Menschen wirklich mochte. Sie waren eine Zwangsgemeinschaft, deren einzige, aber grundlegende Gemeinsamkeit die Abhängigkeit von einer zerstörerischen Droge war.
    Ein Schuss also, wie so oft, wie eigentlich immer. Es war der Stoff aus einer neuen Lieferung ihres Dealers gewesen. Offensichtlich hatte der das reine Heroin weniger gestreckt als sonst üblich. Die Droge war zu rein gewesen, sodass Lydia ungewollt eine Überdosis erhalten hatte. Der Notarzt hatte sie zurückholen können. Im
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