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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten
Autoren: Ralph Westerhoff
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letzten Augenblick fing Lydia, nachdem er das Gegenmittel injiziert hatte, doch wieder an zu atmen. Sie öffnete die Augen und sah in das Gesicht des jungen Notfallmediziners, der ihren Kopf hielt. Unter Husten sagte sie: »Du Scheißkerl hast mir den Trip versaut.«
    Der Notarzt erwartete keine Dankbarkeit, wie er Wolfgang später sagte. Schon gar nicht von einer Drogenabhängigen.
    Die Polizeibeamten hatten Lydias Namen erkannt und Wolfgang Franke angerufen. Der ergriff seine Chance. Gegen den lautstark erklärten Willen Lydias organisierte er einen Entzug. Sie war endlich so weit unten, dass seine Kraft ausreichte, ihren Widerstand zu überwinden. Jahrelang hatte er es akzeptieren müssen, wenn sie seine Hilfe zurückwies. Doch nun, den Tod seiner Tochter vor Augen, war er nicht mehr bereit, auf ihre Einsicht zu hoffen. Es gab ihm die Kraft, die nötig war, ihren durch Drogen manipulierten Willen zu brechen.
    Es war seinen guten Kontakten zu verdanken, dass sie sofort einen Therapieplatz bekam. Doch Lydia schrie ihn seitdem immer nur an und beleidigte ihn. »Lass mich in Ruhe« war noch das Netteste, was er zu hören bekam. In der Klinik versicherte man ihm, dass diese Reaktion normal sei. Normalität war das, wonach sich Wolfgang Franke am meisten sehnte.
    Der Entzug der ersten Tage war schrecklich gewesen. Er war bei ihr geblieben. Hatte jede Minute der entsetzlichen Qualen miterlebt. Er war es ihr schuldig. Er sah es als eine Art Strafe für seinen Egoismus.
    Sie wurde von Krämpfen geschüttelt. Manchmal schwitzte sie, als ob sie einen Marathon gelaufen wäre. Dann fror sie von einer Sekunde auf die andere erbärmlich. Anfälle von Schüttelfrost durchzuckten immer wieder ihren Körper. »Besorg mir einen Schuss!«, brüllte sie ihn mehrfach an. Sie musste an ihr Bett in der Klinik gefesselt werden. Es bestand die Gefahr, dass sie sich selbst verletzte.
    Mehrmals täglich erbrach sie sich. Meist war es ihr egal, dass sie dabei das Bett vollkotzte. Abhängige auf Totalentzug gehen durch die Hölle. Ihnen ist es völlig gleichgültig, was andere denken könnten. Die Schwestern in der Station P1 der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Rostock kannten das zur Genüge. Es gab keine Vorwürfe. Sie tauschten einfach wortlos regelmäßig die Bettwäsche aus.
    »Du Scheißbulle kannst mir doch einen Schuss besorgen!«, flehte sie ihn immer wieder an. »Los, mach. Ich halte das nicht mehr aus.«
    Er versuchte, ihre Hand zu halten. Mal schob sie seinen Arm aggressiv weg. Manchmal nahm sie seine Hand, ließ seine Zärtlichkeit zu und weinte leise. So wie früher, wenn etwas Schlimmes passiert war. Eine halbe Stunde später nannte sie ihn wieder einen »Scheißbullen«.
    Wolfgang ertrug diese Tortur gleichmütig. Er war schließlich schuld an diesem Zustand.
    Nach einer Woche war der körperliche Entzug geschafft. Doch was bedeutete das, »geschafft«? Die Krämpfe waren weg, ja. Der Körper rebellierte nicht mehr dagegen, dass ihm das Gift, das ihn langsam zersetzte, vorenthalten wurde. Aber die Seele? War die Seele auch geheilt?
    Wiebke Sollich versetzte der Anblick ihres vor sich hin grübelnden Kollegen einen Stich. Sie kannte Wolfgang Franke so gut wie sonst vermutlich nur seine Frau. Deswegen hatte er ihr oft sein Herz ausgeschüttet. Häufiger, als es sich für einen Vorgesetzten gegenüber einer Mitarbeiterin geziemt. Sie schätzte die joviale Art, mit der er seine Chefrolle ausübte. Seine Gemütlichkeit. Seine Geduld, die er aufgebracht hatte, als er Anfang der neunziger Jahre ihre Abteilung und damit auch sie übernahm. Er hatte sie nie spüren lassen, dass ihre Kenntnisse und Fähigkeiten damals weit hinter dem zurücklagen, was westdeutscher Standard war. Er gab ihr ganz selbstverständlich die Zeit, alles aufzuholen. Schwächen deckte er, bis sie sie abgelegt hatte. Stärken hob er hervor. Sie liebte ihn dafür. Im rein beruflichen Sinn.
    Deshalb litt auch sie unter der Krankheit seiner Tochter. Als Polizistin hatte sie gelernt, dass Drogenabhängige krank waren. Kranken musste man helfen. Eine manchmal schwere Einsicht, weil sie von Berufs wegen jeden Tag damit konfrontiert wurde, dass sich Junkies vorsätzlich, konsequent und sehenden Auges zugrunde richteten. Lydia war da keine Ausnahme. Doch Wiebke wollte ihr helfen, indem sie Wolfgang Franke bestärkte. Damit er die Kraft fand, seine Tochter beim Heilungsprozess zu unterstützen, so schlecht die Chancen auch
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