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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten
Autoren: Ralph Westerhoff
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glücklich.
    An seinem Studium der Rechtswissenschaften nur mäßig interessiert, hatte er viele Semester verbummelt und das erste Staatsexamen auch prompt in den Sand gesetzt. Danach war er das erste Mal in seinem Studium fleißig gewesen. Ein Jahr und vier Monate hatte er gepaukt. Schrecklich anstrengende sechzehn Monate. Er hatte wie verrückt gelernt und jeden nur denkbaren Kurs besucht, den Alpmann Schmidt, ein auf Examensvorbereitung für Juristen spezialisiertes Nachhilfeunternehmen, in Köln anbot.
    Alpmann Schmidt nannten ihr Kursprogramm natürlich nicht »Nachhilfestunden für Jurastudenten«, sondern vornehm »Juristische Lehrgänge«. Am Charakter der Veranstaltung änderte sich durch die schönere Bezeichnung allerdings nichts. Man trichterte den verzweifelten Eleven Justitias den Stoff ein. Doch mit der Wissensvermittlung ist es wie mit dem Säen von Saatgut: Nur auf fruchtbarem Boden ausgebracht besteht die Chance auf reiche Ernte. Günter Menn glich dabei eher einem verkarsteten steinigen Boden.
    Es hatte trotzdem etwas genützt, wenn auch nicht viel. Mit dem äußerst durchschnittlichen, man musste leider eher sagen: schlechten Ergebnis von »ausreichend« – und das auch nur am unteren Rand – hatte er das erste Staatsexamen im zweiten Anlauf bestanden und war Rechtsreferendar geworden.
    Doch auch das zweite Staatsexamen muss bestanden werden. Sein erster Versuch schlug grandios fehl. Ebenso gründlich misslang der zweite. Eigentlich wäre jetzt Schluss gewesen, doch Günter reichte eine Petition beim Justizminister ein – wie alle, die zweimal beim »Zweiten« durchfallen – und erhielt wie fast jeder dieser Unglücklichen die dritte Chance. Er nutzte sie. Mit allen Mitteln. Dann hatte er sie endlich, die »Befähigung zum Richteramt«, wie es so schön auf dem Zeugnis geschrieben stand. Doch das bedeutete nicht, auch nur die geringste Chance auf einen entsprechenden Job zu haben.
    Zu fast jeder Zeit vor und dann wieder einige Jahre nach seinem Abschluss hätte er sich mit seiner Qualifikation in das Heer des juristischen Proletariats einreihen müssen. Er hätte sich für einen Hungerlohn bei irgendwelchen Kanzleien verdingen müssen und, wie nicht wenige, nur durch Zusatztätigkeiten überhaupt ein nennenswertes Einkommen erzielen können. Taxifahren war damals wie heute sehr beliebt.
    Zu seinem Glück wurde er aber im Jahr 1991 fertig. In den neuen Bundesländern wurden damals zum Aufbau der Gerichtsbarkeit verzweifelt Juristen gesucht. Sogar er konnte dort Staatsanwalt werden. Man bot ihm eine Verbeamtung an. Ihm, dem doch eher unbegabten Absolventen mit, vorsichtig formuliert, nicht gerade glänzenden Noten. Günter griff zu. Er hatte tatsächlich allen Grund, glücklich zu sein. Fortuna hatte es gut mit ihm gemeint.
    Jetzt, viele Jahre später, war er Oberstaatsanwalt, Leiter der Abteilung Wirtschaftskriminalität und der gefürchtete Terrier, der Betrügern, Insolvenzverschleppern, Bauernfängern und anderen Parasiten der freien Marktwirtschaft auf den Zahn fühlte und ihnen nicht selten selbigen zog.
    Er hatte seine Berufung gefunden, und sein Engagement und die über die Jahre erworbene Erfahrung glichen den unbestreitbar vorhandenen Mangel an juristischer Begabung mehr als aus. Seine Vorgesetzten schätzten seine Arbeit. Sein Urteil galt etwas. Wer nach Günter Menns Prüfung angeklagt wurde, erhielt fast immer eine Strafe – nicht selten handelte es sich dabei um eine mehrjährige Haft. Wenn er aber zu dem Ergebnis kam, dass die Verdachtsmomente für eine Verurteilung nicht ausreichten, dann war das auch so und wurde allgemein akzeptiert.
    Günter blickte auf seine Uhr, verfügte noch schnell in einem Vordruck die Einstellung eines Verfahrens wegen der angeblichen Verschleppung einer GmbH-Insolvenz, heftete das Schreiben auf eine der vielen roten Akten, legte diese auf den Aktenwagen und räumte seinen Schreibtisch auf. Es war Freitag, vierzehn Uhr dreißig, und er freute sich auf seinen Abend. Niemand wusste, was er ein- bis zweimal im Monat in der Nähe von Lübeck machte, nicht einmal seine beiden engsten Freunde, Wiebke Sollich und Wolfgang Franke. Dieses kleine Geheimnis verhinderte auch, dass er Wiebke Avancen machte. Er liebte diese Frau seit der ersten Minute, in der er sie gesehen hatte. Doch er war davon überzeugt, dass es bei Wiebke auf keinerlei Verständnis stoßen würde. Er wollte darauf aber nicht verzichten. Er konnte darauf nicht verzichten.
    ***
     
    Ich habe
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