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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten
Autoren: Ralph Westerhoff
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auslagern.«
    »Dunkle Seite?«, fragte Günter. »Bagatellisieren Sie das nicht ein bisschen? Immerhin geht es um die Fähigkeit, Morde zu begehen.«
    Professor Schwindhelm putzte wieder seine Brille. Dann schaute er Günter tief in die Augen und fragte mit eindringlicher Stimme: »Haben Sie sich noch niemals gewünscht, einen Menschen umzubringen?«
    Günter schwieg.
    Er dachte an Johannes Kleinert und an seine Gedanken in den schweren Nächten, als er mit diesem Problem noch allein gewesen war. Er wusste nicht, ob er es, wenn es hart auf hart gekommen wäre, wirklich getan hätte. Er erinnerte sich aber daran, dass er darüber nachgedacht hatte.
    »Gut, lassen wir das«, sagte Randolf, um das betretene Schweigen zu beenden. »Aber warum ist dieser Typ dann jahrelang völlig normal geblieben und hat erst mit Anfang fünfzig angefangen, als Daniel reihenweise Menschen umzubringen? Das verstehe ich nicht.«
    »Wie ich erwähnt habe, liegt die Ursache der dissoziativen Identitätsstörung im Kindesalter. Im Erwachsenenalter ändern sich die Anforderungen. Das Alter Ego wird nicht mehr gebraucht, es tritt in den Hintergrund. Bei Thomas Schulte war der Bruder einfach ausgewandert, jedenfalls nicht mehr da. Aber die einmal angelegte Persönlichkeit bleibt erhalten. Wenn Sie mir das Bild gestatten, ist ein Mensch mit einer solchen Persönlichkeitsstörung, wenn die andere Persönlichkeit derart aggressiv ist wie Daniel, ein Pulverfass.«
    »Und wann explodiert eine solche Bombe?«
    »Wenn ein auslösendes Moment, wir nennen das ›Trigger‹, in das Leben des Patienten tritt. Wenn dieses auslösende Moment das Leben des Patienten in starker und schädigender Weise beeinträchtigt, wird die zweite Persönlichkeit wieder aktiv. Die Daniels kehren sozusagen zurück.«
    »Wer hat bei Thomas die Lunte gezündet?«, fragte Wiebke.
    »Sie«, sagte Professor Schwindhelm trocken.
    »Ich?« Wiebke schaute fassungslos. »Ich soll daran schuld sein, dass dieser Mann sich heimlich eine Wohnung nimmt, in der er sich mit Theaterschminke, künstlichen Narben und Zahnkronen in eine andere Persönlichkeit verwandelt? Ich bin verantwortlich, dass er mich und alle anderen mit gekauften Anrufen verarscht? Ich soll daran schuld sein, dass er wie ein Irrer Menschen killt? Ich bin wohl auch noch selbst daran schuld, dass er mich fast umgebracht hat? Herr Professor, ich bin bald nicht mehr sicher, ob nicht Sie derjenige sind, der hier spinnt.«
    »Verzeihen Sie, Frau Menn, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin. Ich meinte nicht Sie als Person, sondern Sie als Polizistin. Sie haben, ohne das natürlich wissen oder auch nur ahnen zu können, die Gefährlichkeit des Lebens, die Kaltblütigkeit der Täter und die manchmal vorhandene Ohnmacht des Staates, dagegen etwas zu tun, wieder in sein Bewusstsein geholt. Thomas war einer Situation ausgesetzt, mit der er nicht fertig wurde. Also holte er sich gewissermaßen Daniel zurück. Schuld, wenn ich auch diesen Begriff nicht besonders mag, schuld sind allenfalls seine Eltern.«
    »Herr Professor«, warf Günter ein. »Das hört sich verdammt nach der Geschichte an, die die Verteidiger uns Staatsanwälten immer verkaufen wollen. ›Hören Sie, der Täter hatte eine schlimme Kindheit. Er selbst kann gar nichts dafür.‹ Wir kennen das zur Genüge. Was ist, wenn Thomas Schulte ganz genau weiß, was er getan hat, und sich diese Geschichte mit Daniel nur ausgedacht hat, um sich auf Paragraf 20 Strafgesetzbuch zu berufen?«
    »Paragraf 20?«, fragte Randolf.
    »Eine Vorschrift, die kurz gesagt beinhaltet, dass der, der für die Tat nichts kann, weil er zum Beispiel krank ist, auch nicht bestraft werden kann. Ohne Schuld keine Strafe«, erläuterte Günter.
    »Das ist nicht vollkommen ausgeschlossen«, räumte Professor Schwindhelm ein. »Es ist meine Aufgabe, das herauszubekommen. Ich stehe noch am Anfang. In den ersten Wochen habe ich nur mit Daniel reden können. Erst seit vorgestern gibt es Thomas wieder. Es spricht im Moment viel dafür, dass das von mir geschilderte Krankheitsbild vorliegt. Es könnte aber auch sein, dass er sich wegen seiner Ausbildung diese Geschichte ausgedacht hat. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich.«
    »Das heißt, Sie lassen den Typen da unter Umständen wieder laufen?« Randolf wurde schon wieder etwas lauter.
    »Nein«, sagte Schwindhelm. »Entweder bestätigt sich meine Diagnose, dann muss er hier in der Psychiatrie bleiben, weil Daniel als latente Gefahr
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