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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten
Autoren: Ralph Westerhoff
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ihres Kindes vor, verliefen aber im Sande. Im zarten Alter von nicht einmal dreizehn Jahren besorgte sich Thomas Rückert einen Baseballschläger und erschlug in der Nacht vom 8. auf den 9. Juli 1972 seine Eltern im Schlaf.«
    Professor Schwindhelm wollte etwas sagen, doch Randolf ließ ihn nicht zu Wort kommen.
    »Er war strafunmündig und wurde deshalb in ein Heim gesteckt. Pflegeeltern hat es nie gegeben. Wie wir herausgefunden haben, war die alte Dame, von der er behauptete, sie sei seine Pflegemutter, eine Alzheimer-Patientin, die er früher einmal behandelt hatte und von der er Wiebke als Untermauerung seiner rührseligen Geschichte erzählt hatte. Wegen seiner Tat genehmigte das Standesamt 1979 die Namensänderung von ›Rückert‹ auf ›Schulte‹. Der nunmehrige Thomas Schulte arbeitete in Hamburg als Hilfsarbeiter im Hafen, machte aber auf dem zweiten Bildungsweg Abitur, studierte schließlich Medizin. Später wurde er Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und kam 1997 als Oberarzt an Ihre Klinik, werter Professor. Den Rest der Geschichte kennen Sie ja.«
    »Das stimmt alles. Und doch ist Thomas Schulte nicht der Täter.«
    Randolf war kurz davor, aufzuspringen und dem aus seiner Sicht bornierten Arzt an die Gurgel zu gehen. Günter hielt ihn zurück. Auch Wiebke machte eine beruhigende Handbewegung.
    »Erklären Sie sich mal näher«, meinte Günter.
    »Die Krankheit, unter der Thomas Schulte leidet, nennen wir dissoziative Identitätsstörung. Vereinfacht gesagt, stecken in einem Körper mehrere Persönlichkeiten. Deshalb sprechen wir auch von einer multiplen Persönlichkeit. Grundlegend bei diesem Krankheitsbild ist, dass der Patient in der Lage ist, mehrere für sich selbstständige Persönlichkeiten auszubilden, die ein völliges Eigenleben führen. Es gibt Fälle, in denen die eine Persönlichkeit von der anderen nichts weiß. In anderen, wie dem vorliegenden, treten die verschiedenen Alter Egos, wie wir das nennen, sogar miteinander in Kontakt und kommunizieren.«
    »Also ist er schizophren?«, fragte Wiebke.
    »Nein. Die Schizophrenie ist ein völlig anderes Krankheitsbild. Aber ich gebe Ihnen insofern recht, Frau Menn, dass dieses Phänomen in der Bevölkerung oft mit dem Begriff Schizophrenie belegt wird.«
    Wiebke lächelte auf einmal. Es tat ihr gut, mit ihrem neuen Namen angesprochen zu werden. Die Ehe mit Thomas war in einem überraschend schnellen Verfahren für nichtig erklärt worden. Genau an dem Tag, an dem die Nichtigkeit rechtskräftig geworden war, hatte sie Günter, dessen Hand sie gerade zärtlich hielt, geheiratet.
    »Der Schulte hat also, auf Deutsch gesagt, einen an der Waffel und hat deshalb Menschen gekillt? Sie erwarten doch nicht, dass ich Ihnen das abkaufe«, sagte Randolf, inzwischen äußerlich ruhig.
    »Ich verstehe, dass Sie alle drei mit dem vorliegenden Fall extreme Probleme haben. Ich erwarte auch kein Verständnis. Ich möchte Ihnen nur die Ergebnisse meiner Untersuchung und meine vorläufige Diagnose mitteilen. Natürlich nur, wenn Sie das wollen.«
    »Machen Sie bitte weiter, Herr Professor«, sagte Wiebke und drückte ihre Hand fester in Günters.
    »Die Fähigkeit, eine zweite oder manchmal sogar dritte Persönlichkeit auszuleben, steckt in jedem von uns. Jedes Kind hat Phasen, in denen es eine andere Persönlichkeit ausprobiert, dann aber die Elemente dieser anderen Persönlichkeit in das eigene Ich integriert. Wenn dieser normale Prozess durch schwere traumatische Erfahrungen massiv gestört wird, können diese Kinder oft nur überleben, indem sie die für sie unverständlichen, bedrohlichen und widersprüchlichen Umweltanforderungen auf eine andere Person transferieren. Deshalb ist bei gut neunzig Prozent aller Patienten mit diesem Krankheitsbild ein Missbrauch körperlicher und/oder sexueller Art festzustellen.«
    »Wie bei Thomas?«
    »Es ist ein Lehrbuchbeispiel. Das Kind Thomas konnte sich nicht mehr helfen. Es wollte seinerseits die Misshandlungen nicht mehr erleben. Also schuf Thomas seinen Bruder Daniel, der die Schläge einstecken musste, der sexuell missbraucht wurde. Und dieser Daniel konnte dann auch die Eltern töten. Thomas blieb das brave, gewaltverachtende Kind.«
    »Wenn ich Sie richtig verstehe, können die verschiedenen Menschen in einem Körper also völlig unterschiedlich sein.«
    »Vollkommen unterschiedlich. Bis hin zu ihrer sexuellen Orientierung. Es ist ein wenig so, als würden diese Menschen ihre dunkle Seite einfach
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