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Kalt

Kalt

Titel: Kalt
Autoren: Dean R. Koontz
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hundert.
    Der Tod hatte nie eine besondere Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Die schwarz gewandeten Anhänger der Subkultur des Gothic und ihre romantische Identifikation mit den lebenden Toten verstand er nicht, und Vampire fand er auch nicht sexy. Der Gangsta-Rap mit seiner Verherrlichung von Mord, Totschlag und Grausamkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht brachte ihn ebenfalls nicht dazu, auf den Zehen zu wippen. Filme, in denen es in erster Linie um Ausweidung und Enthauptung ging, mochte er nicht; sie brachten einen nur dazu, angewidert sein Popcorn zur Seite zu stellen. Wahrscheinlich würde er nie voll im Trend liegen. Es war eben sein Los, s o d röge zu sein wie ein Salzcracker, aber die Aussicht, auf immer und ewig dröge zu sein, machte ihm bei weitem nicht so viel Kummer wie die, tot zu sein.
    Obwohl er furchtbare Angst hatte, war er vorsichtig optimistisch. Hätte sein unbekannter Angreifer nämlich vorgehabt, ihn umzubringen, so hätte Dylans Körper inzwischen mit Sicherheit schon längst Zimmertemperatur angenommen. Offenbar war er gefesselt und geknebelt worden, weil der Kerl etwas anderes mit ihm vorhatte.
    Das Thema Folter kam ihm in den Sinn. Allerdings hatte Dylan nie davon gehört, dass irgendwelche Leute in den Zimmern bekannter Motelketten zu Tode gefoltert worden wären, zumindest nicht regelmäßig. Psychopathische Mörder fühlten sich im Allgemeinen unwohl bei dem Gedanken, ihrem blutigen Geschäft in einem Ambiente nachzugehen, in dem gleichzeitig womöglich ein Rotariertreffen stattfand. So hatte Dylan sich seit Beginn seiner Wanderjahre auch schlimmstenfalls über unsaubere Zimmer, fehlgeleitete Weckrufe und mieses Essen in der Cafeteria beschweren müssen. Gleichwohl – kaum hatte die Folter eine Tür geöffnet und sich in sein Denken eingeschlichen, da nahm sie sich auch schon einen Stuhl, ließ sich nieder und weigerte sich, wieder zu verschwinden.
    Trost schöpfte Dylan auch aus der Tatsache, dass der offenbar mit einem Totschläger ausgerüstete Angreifer Shepherd ungeschoren, ungefesselt und ungeknebelt gelassen hatte. Bestimmt bedeutete dies, dass der Übeltäter, wer immer er sein mochte, den extremen Grad von Sheps innerer Distanz erkannt hatte und wusste, dass der kranke Junge keine Bedrohung darstellte.
    Ein echter Psychopath hätte sich den armen Shepherd trotzdem vom Hals geschafft, entweder nur so zum Spaß oder um sein Image als Mörder aufzupolieren. Wie die meisten zeitgenössischen Amerikaner waren wahnsinnige Killer wahrscheinlich davon überzeugt, dass es für eine gute geistige Gesundheit nötig sei, sich ein hohes Selbstwertgefühl zu bewahren.
    Inzwischen fuhr Shepherd in erstaunlichem Tempo damit fort, das Puzzle zusammenzusetzen. Mit rituellem Nicken und dem Druck des rechten Daumens fügte er ein gezahntes Pappstück nach dem anderen ein, wobei er etwa sechs bis sieben Teile pro Minute schaffte.
    Dylans verschleierter Blick war wieder klar geworden, und der Brechreiz hatte nachgelassen. Normalerweise wäre diese Entwicklung Grund zur Freude gewesen, aber echte Freude blieb ihm verwehrt, bis er wusste, wer ein Stück von ihm wollte – und um welches Stück es sich dabei genau handelte.
    Die innere Pauke seines dröhnenden Herzens und das Rauschen des Bluts in den Trommelfellen, das sich so anhörte wie ein Becken, auf dem der Schlagzeuger sanft seine Besen kreisen ließ, übertönten alle leisen Geräusche, die der Eindringling machte. Vielleicht verzehrte der Kerl gerade Sheps und Dylans Abendessen – oder er ölte vorsorglich seine Kettensäge, bevor er sie in Gang setzte.
    Weil Dylan seitlich des Spiegels saß, der über dem Schreibtisch hing, sah er darin nur ein schmales Stück des Zimmers hinter sich. Während er seinen Bruder, den Puzzleprofi, betrachtete, erspähte er aus den Augenwinkeln eine flüchtige Bewegung im Spiegel, doch als er genauer hinschaute, verschwand das Phantom aus dem Blickfeld.
    Als der Angreifer ihm endlich direkt vor die Augen trat, sah er nicht bedrohlicher aus als ein fünfzigjähriger Chorleiter, der sich von Herzen über den Klang harmonischer Stimmen beim Singen froher Hymnen freut. Schiefe Schultern, ein gemütlicher Schmerbauch, schütteres weißes Haar, kleine, fein geformte Ohren. Das rosige Gesicht wartete mit Hängebacken auf und sah so gütig aus wie ein Laib Weißbrot. Die blassblauen Augen waren wässrig wie aus Mitgefühl und schiene n e ine Seele zu offenbaren, die zu sanft war, um einen feindseligen Gedanken
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