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Kalt

Kalt

Titel: Kalt
Autoren: Dean R. Koontz
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werden.
    Eben deshalb verschaffte der tragische Geisteszustand von Shepherd ihm normalerweise einen überraschenden Vorteil, wenn er sich mit voller Aufmerksamkeit einem Puzzlespiel widmete. Im Augenblick rekonstruierte er das komplizierte Bild eines reich geschmückten Schintoschreins, der von Kirschbäumen umgeben war.
    Obwohl er mit diesem zweitausendfünfhundert Teile umfassenden Projekt erst angefangen hatte, nachdem er mit Dylan im Motel eingetroffen war, hatte er bereits etwa ein Drittel vollendet. Nachdem er alle vier Ränder zusammengefügt hatte, arbeitete er sich gewissenhaft nach innen vor.
    Der Junge – Dylan sah seinen Bruder als Jungen, obwohl Shep schon zwanzig war – saß im Licht einer Messinglampe am Tisch. Sein linker Arm war halb gehoben, und die linke Hand bewegte sich ständig auf und ab, als winkte er seinem Ebenbild in dem Spiegel zu, der über dem Tisch hing. In Wirklichkeit sprang sein Blick nur von der Szene, die er zusammensetzte, und dem Haufen loser Puzzleteilchen in der offenen Schachtel hin und her. Höchstwahrscheinlich merkte er nicht, dass er winkte; im Zaum halten hätte er seine Hand ohnehin nicht können.
    Ticks, anfallsweises Schaukeln und andere bizarre, sich ständig wiederholende Bewegungen waren Symptome von Sheps Krankheit. Manchmal war er so starr wie eine Bronzestatue, so reglos wie Marmor, und vergaß sogar zu blinzeln, aber meis tens schnippte oder spielte er stundenlang mit den Fingern, wippte mit den Beinen oder klopfte mit den Füßen auf den Boden.
    Im Gegensatz dazu war Dylan so fest an einen Armstuhl mit gerader Lehne gefesselt, dass es ihm schwer gefallen wäre, mit irgendetwas zu schnippen, zu wippen oder zu klopfen. Seine Fußgelenke waren reichlich mit daumenbreitem Isolierband umwickelt, um sie fest an die Stuhlbeine zu binden; weiteres Isolierband fixierte Handgelenke und Unterarme an die Stuhllehnen. Der rechte Arm war mit der Hand nach unten befestigt, die linke Handfläche hingegen wies nach oben.
    Während er bewusstlos gewesen war, hatte man ihm irgendein Tuch in den Mund gestopft, um dann mit Klebeband die Lippen zu verschließen.
    Obwohl Dylan schon zwei, drei Minuten wieder bei Bewusstsein war, hatte er noch keinerlei Teile des ominösen Puzzles zusammengesetzt, mit dem man ihn konfrontiert hatte. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wer ihn überfallen hatte und weshalb.
    Zweimal hatte er versucht, sich in seinem Armstuhl umzudrehen, um einen Blick auf die beiden Betten und das Bad hinter ihm zu werfen, doch jedes Mal hatte ihm sein unbekannter Feind einen Schlag an die Seite des Kopfes versetzt, um seine Neugier zu dämpfen. Heftig waren die beiden Schläge zwar nicht gewesen, aber genau auf die empfindliche Stelle gerichtet, an der er zuvor brutaler getroffen worden war, und jedes Mal wäre er fast wieder bewusstlos geworden.
    Hätte Dylan um Hilfe gerufen, so wäre sein erstickter Schrei zwar nicht aus dem Motelzimmer gedrungen, hätte aber seinen kaum drei Meter entfernten Bruder erreicht. Leider hätte Shep weder auf ein Gebrüll aus vollem Hals noch auf ein Flüstern reagiert. Selbst an seinen besten Tagen reagierte er selten auf Dylan oder irgendjemand anders, und wenn er von einem Puzzle besessen war, kam ihm die hiesige Welt weit wenige r w irklich vor als die zweidimensionale Szene auf dem zerstückelten Bild.
    Mit seiner ruhigen rechten Hand wählte Shep ein amöbenförmiges Stück Pappe aus der Schachtel, warf einen Blick darauf und legte es dann beiseite. Sogleich zog er ein weiteres Fragment aus dem Haufen und fand prompt die richtige Stelle dafür, worauf er ein zweites und ein drittes Stück einfügte – alles binnen einer halben Minute. Es sah aus, als glaubte er, allein im Zimmer zu sitzen.
    Dylans Herz schlug so heftig gegen die Rippen, als wollte es deren Stabilität testen. Bei jedem Schlag durchfuhr ein pochender Schmerz seinen Schädel, und der Fetzen in seinem Mund schien in widerwärtigem Gleichtakt zu pulsieren wie etwas Lebendiges, was Dylan mehr als einmal zum Würgen brachte.
    Er war so voller Furcht, wie es zu großen, starken Kerlen wie ihm überhaupt nicht passte, aber er schämte sich seiner Angst keineswegs und war völlig damit einverstanden, ein großer, verängstigter Kerl zu sein. Dabei war er sich einer Sache so sicher wie noch nie: Mit neunundzwanzig Jahren war man zu jung zum Sterben. Wäre er neunundneunzig gewesen, so hätte er wahrscheinlich argumentiert, das beste Mannesalter beginne erst mit
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