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Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Autoren: Unbekannter Autor
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als sähe er den Schöpfer persönlich und nicht den glatten Marmor der Kuppelrundung. Francesco bemerkte es, und er beobachtete den Büßer, als sei er ein Orakel, von dem eine Äußerung zu erwarten wäre.
    Was tatsächlich auch geschah. »Er ist noch im Bett.« Dann kam der Mann wieder zur Vernunft und zog sich vorsichtig die Kapuze in die Stirn, um sein Gesicht wieder zu verbergen.
    Francesco packte Baroncelli am Ellbogen und zischte erneut. »Wir müssen sofort zum Palast der Medici!«
    Lächelnd dirigierte Francesco ihn nach links, fort von Lorenzo de' Medici und vorbei an einer Handvoll Florentiner Honoratioren, die vorn in der ersten Bank saßen. Sie benutzten nicht die nördliche Tür ganz in ihrer Nähe, die zur Via de' Servi hinausging, da Lorenzo ihr Verschwinden sonst wahrscheinlich bemerkt hätte.
    Stattdessen gingen die beiden durch das Seitenschiff, das sich über die einschüchternde Länge des gesamten Heiligtums erstreckte - vorbei an rötlich braunen, vier Mann starken Sandsteinsäulen, verbunden durch hohe, weiße Bögen, die lange Buntglasfenster rahmten. Anfangs setzte Francesco eine gütige Miene auf, als er an vielen bekannten Gesichtern in den ersten Bankreihen vorbeikam, denen er zunickte. Baroncelli war wie benommen und versuchte nach Kräften, alle zu grüßen, die er kannte, doch Francesco schob ihn so rasch voran, dass ihm fast die Luft ausging.
    Hunderte von Gesichtern, Hunderte von Leibern. Leer hätte die Kathedrale endlos weit ausgesehen; an diesem fünften Sonntag nach Ostern war sie jedoch bis auf den letzten Platz besetzt, sodass sie überfüllt, beengt und stik-kig erschien. Baroncelli kam es so vor, als spräche aus jedem Gesicht, das sich ihm zuwandte, ein leiser Verdacht.
    Die erste Gruppe von Kirchgängern, die sie passierten, bestand aus den Wohlhabenden der Stadt: glitzernde Frauen und Männer, schwer mit Gold und Juwelen behängt, gebeugt unter der Last pelzgefütterter Brokatgewänder und Samtstoffe. Den üblichen Weihrauchdunst vom Altar überlagerte der Geruch nach Rosmarin und Lavendelwasser der Männer, vermischt mit dem flüchtigeren, weiblichen Duft nach Rosenöl.
    Francescos Samtpantinen huschten rasch über den Marmorboden; sein Ausdruck wurde ernster, sobald er an der Aristokratie vorbei war. Das Lavendelaroma wurde intensiver, als die beiden an Bankreihen mit Männern und Frauen vorüberkamen, die in Seide und feines Tuch gekleidet waren, verziert mit glitzerndem Gold hier und Silber da, selbst ein Diamant blitzte hin und wieder auf. Ohne zu lächeln, nickte Francesco ein- oder zweimal Geschäftskollegen niederen Standes zu. Baroncelli hatte Mühe zu atmen; der Ansturm von Gesichtern - allesamt Augenzeugen -ließ tief empfundene Panik in ihm aufsteigen.
    Doch Francesco verlangsamte seinen Schritt nicht. Als sie an den Händlern der Mittelschicht vorbeigingen, den Schmieden und Bäckern, den Kunsthandwerkern und ihren Lehrlingen, wich der Kräuterduft dem Geruch nach Schweiß, und die feinen Stoffe wurden durch die gröberen Gewebe aus Wolle und Seide ersetzt.
    Die Armen standen in den hinteren Reihen: die Wollkämmer, die ihren Husten kaum zu unterdrücken vermochten, und die Färber mit ihren dunkel gefleckten Händen. Die Kleidung bestand aus zerschlissener Wolle und knautschigem Leinen, parfümiert mit Schweiß und Dreck. Francesco und Baroncelli bedeckten unwillkürlich Mund und Nase.
    Schließlich traten sie aus den großen, offenen Türen ins Freie. Baroncelli tat einen stockenden, tiefen Atemzug.
    »Keine Zeit für Feigheit!«, fuhr Francesco ihn an und schleifte ihn in die Straße hinein, vorbei an den grapschenden Armen der Bettler, die im Schneidersitz auf der Kirchentreppe saßen, vorbei am schlanken, hoch aufragenden Campanile zu ihrer Linken.
    Sie machten sich auf den Weg über die große, offene Piazza, vorbei an der achteckigen Taufkirche des Heiligen Johannes, zwergenhaft neben dem großen Dom. Die Versuchung zu laufen war groß, aber es war zu gefährlich; trotzdem gingen sie so schnell, dass Baroncelli außer Atem geriet, obwohl seine Beine doppelt so lang waren wie die seines Dienstherrn. Nach dem Dämmer im Duomo schien das Sonnenlicht grell. Es war ein herrlicher, wolkenloser Frühlingstag, für Baroncelli indes war er düster.
    Sie wandten sich nach Norden in die Via Larga, die zuweilen die »Straße der Medici« genannt wurde. Es war unmöglich, über die ausgetretenen Steinplatten zu laufen und nicht Lorenzos eiserne Hand zu spüren, mit
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