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Julischatten

Julischatten

Titel: Julischatten
Autoren: Antje Babendererde
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nächste Verkehrsschild, eine Geschwindigkeitsbegrenzung, war durchsiebt von Einschusslöchern und Sim schluckte trocken. Jimi ignorierte das Schild und jagte den Pick-up auch weiterhin mit sechzig Meilen die Stunde (mehr gab die Kiste vermutlich nicht her) über die Landstraße.
    »Wie lange bleibst du im Res?«, erkundigte sich Lukas.
    Für ihre Antwort brauchte Sim nicht lange zu überlegen, sie hatte die Tage ihrer Verbannung mehr als einmal gezählt und es waren doch nicht weniger geworden. »Genau vierzig Tage.«
    »Das klingt, als wärst du nicht sonderlich begeistert davon, hier zu sein«, bemerkte er und wandte ihr fragend das Gesicht zu.
    »Ich kenne meine Tante nicht besonders gut«, sagte sie schnell. Anscheinend wussten die beiden doch nichts über den Grund ihres Aufenthaltes. »Wir haben uns vor vier Jahren das letzte Mal gesehen und ich weiß nicht, wie sie jetzt drauf ist.«
    Damals war Sims Großvater sechzig geworden und Tante Jo zu diesem Anlass nach Deutschland gekommen. Aber sie hatten kaum Gelegenheit gehabt, miteinander zu reden, weil ihre Tante ständig umlagert gewesen war von neugierigen Familienmitgliedern, die sie über ihr Leben im Indianerreservat ausfragten.
    »Deine Tante ist in Ordnung«, sagte Lukas. »Wird dir bestimmt gefallen bei ihr.«
    Jimi drehte das Radio lauter. Die Musik kannte Sim. Es war John Trudells unverkennbarer Sprechgesang. In den vergangenen Jahren hatte Tante Jo ihr immer eine CD mit indianischer Musik zum Geburtstag und eine zu Weihnachten geschickt, darunter war auch »Bone Days« von John Trudell gewesen.
    How do we sell our Mother? Crazy Horse, we hear what you say.
    Schon wieder Crazy Horse, dachte sie und versuchte, sich daran zu erinnern, was sie in ihrer Indianerphase über ihn gelesen hatte. Crazy Horse war ein berühmter Häuptling der Lakota gewesen, aber mehr wollte ihr dazu nicht einfallen. Nun, das sollte nicht das Problem sein. Immerhin hatte sie volle sechs Wochen, um ihre Erinnerungen aufzufrischen.
    Sie hatten eine Schule passiert und kurz darauf machte die Straße einen scharfen Linksknick. Die knochigen Felsen wichen hügeligem Grasland. Täler und Anhöhen wie Wellen aus schimmerndem Gold. Das Land war leer. Nur hier und da ein paar Sträucher oder eine Baumgruppe. Das graue Asphaltband der Straße war durchbrochen von schwarzen Teerflicken und abgrundtiefen Löchern. Krater war wohl das bessere Wort. Jimi umfuhr sie schnittig, als würde er jedes Schlagloch persönlich kennen.
    Die Behausungen, die wie hingewürfelt am Straßenrand und zwischen den Hügeln auftauchten, waren auf Hohlblocksteine aufgebockte Wohntrailer (sie erinnerten Sim an große Bauwagen) und hier und da auch mal ein Holzhaus. Meist waren die Buden umgeben von irgendwelchem Krempel, der schon vor langer Zeit ausgedient hatte: Autoreifen, Kühlschränke, Klobecken. Dazwischen buntes Plastikspielzeug und achtlos hingeworfene Fahrräder. Eine Reifenschaukel, ein Trampolin. Autos in verschiedenen Stadien des Verfalls.
    Irgendwann tauchte ein weißes Hinweisschild mit der Aufschrift »Horse Hill Arts & Crafts« auf und kurz darauf lenkte Jimi den Pick-up nach links auf eine Auffahrt. Die ansteigende Schotterpiste war gesäumt von unzähligen kurzstieligen Sonnenblumen. Nach einer langen Kurve erblickte Sim ein großes Blockhaus und mehrere Nebengebäude.
    Das Haupthaus schmiegte sich auf halber Höhe an den Hang und seine hellen Rundbalken leuchteten in der Abendsonne in einem warmen Orangerot. Auf den breiten Holzstufen, die zum oberen Eingang führten, saß ein großer weißer Hund.
    Jimi parkte den Pick-up vor dem Haus, und nachdem die Jungen ausgestiegen waren, nahm Sim ihren Rucksack und kletterte ebenfalls aus der Fahrerkabine. Ein paar wild aussehende Katzen huschten davon und versteckten sich unter einem langen Trailer mit türkisfarbener Blechverkleidung, der – quer zum Hügel – dem Blockhaus gegenüberstand. Der Hund kam schwanzwedelnd auf sie zugelaufen und beschnupperte Sims rot bestrumpfte Beine gründlich.
    »Hey, Juniper«, sagte Jimi. Juniper sah aus wie ein weißer Wolf und war ziemlich fett. Während Jimi sich nicht weiter um die Hündin kümmerte, kniete Lukas nieder und verteilte großzügig Streicheleinheiten. Er klaubte Kletten und Zecken aus Junipers Fell und nannte sie liebevoll »Little Mum«.
    Die Hundedame war also nicht fett, sondern trächtig.
    Sim schaute sich um. Das Blockhaus mit seinem massiven Unterbau schien auch den Laden ihrer Tante zu
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