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Juliregen

Juliregen

Titel: Juliregen
Autoren: Iny Lorentz
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Jahr einer Epoche. Noch herrscht mit Wilhelm I. ein Sohn der Königin Luise von Preußen. 1797 geboren, hat er die Napoleonischen Kriege und tiefe Demütigung Preußens durch den Korsen nach der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt ebenso erlebt wie den Wiederaufstieg Preußens nach dem Wiener Kongress. Er ist ein greiser, aber auch ein widerwilliger Kaiser der Deutschen und steht der rasanten Entwicklung, die das Land nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und der Reichsgründung nimmt, fassungslos gegenüber. Am neunten März 1888 stirbt Wilhelm I. Sein Sohn Friedrich III . (nach preußischer, nicht nach deutscher Zählung) trägt die Krone nur neunundneunzig Tage. Sein Tod beendet auch die Hoffnung der liberalen Kräfte in Deutschland auf eine konstitutionelle Monarchie nach englischem Vorbild.
    Mit dem neuen Kaiser Wilhelm II . weht ein anderer Wind durch das Reich. Wilhelm II . ist durch einen verkrüppelten linken Arm behindert und gibt sich besonders martialisch, um dies zu überspielen. Auch verwechselt er Selbstbewusstsein mit forschem Auftreten, und seine Diplomatie besteht mehr aus dem Auffahren von Kanonenbooten als aus zähen und klugen Verhandlungen. Doch das ist eine andere Geschichte.
    Bereits in den letzten Jahren Wilhelms I. nahm der Patriotismus in Deutschland immer mehr nationalistische Züge an. Nachdem man sich lange im Schatten anderer Staaten wähnte, fordert man immer vehementer einen Platz an der Sonne. Männer wie Adolf Lüderitz, Carl Peters und Gustav Nachtigal gründeten in Afrika Handelsposten, die sich zu den Keimzellen der Kolonien Deutsch-Südwestafrika (das heutige Namibia), Deutsch-Ostafrika (der Festlandsanteil von Tansania) und Togo entwickelten.
    In Deutschland entstanden riesige Firmenimperien durch Männer wie Alfred Krupp und Werner von Siemens. Ihre Schöpfer gelangten als eine neue Schicht bürgerlicher Aufsteiger zu hohem Ansehen und wurden von den Herrschenden mit Auszeichnungen und Adelstiteln belohnt. Ihr Reichtum ermöglichte es den Mitgliedern dieser Familien, bis in höchste Adelskreise einzuheiraten, und so mancher verarmte Graf aus uraltem Geschlecht polierte auf diese Weise sein trüb gewordenes Wappenschild wieder auf.
    Auch wurden eine Unmenge neuer Erfindungen gemacht. Die Elektrizität trat ihren Siegeszug an, Eisenbahnen durchfuhren die Lande mit einer bis dato nicht gekannten Geschwindigkeit, und wem das noch zu langsam war, konnte Telegramme bis in ferne Kontinente schicken. Dampfschiffe lösten mehr und mehr die Segelschiffe ab, und wer mit der Zeit ging, konnte anstelle eines Türklopfers oder Klingelzugs eine elektrische Klingel an seiner Haustür anbringen lassen.
    Es war allerdings auch eine Zeit der Doppelmoral. Edelbordelle florierten ebenso wie die einfachen Etablissements für die unteren Schichten, doch nach außen hin galt es für das Bürgertum ebenso wie für den Adel, um jeden Preis den Schein zu wahren. Gelang dies nicht, so wurde die angekratzte Ehre der Herren rasch durch einen Kugelwechsel im Duell wiederhergestellt. Allerdings konnte jemand, der zu Recht oder fälschlich der Unmoral bezichtigt wurde, rasch durch sämtliche gesellschaftlichen Raster fallen.
    In dieser Zeit begann das Proletariat gegen die unmenschlichen Bedingungen in den Fabriken aufzubegehren, die deren Besitzer märchenhafte Reichtümer, ihnen jedoch ein Leben in Elend und Not bescherten. Und noch jemand begehrte auf, nämlich die Frauen. In England und in den USA forderten die Suffragetten, wie die Frauenrechtlerinnen genannt wurden, die gleichen Rechte wie die Männer, und auch in Deutschland traten mutige Frauen auf, um für ein Ende der Bevormundung und Rechtlosigkeit zu demonstrieren. So weit wie in England, wo es bei spektakulären Aktionen zu Todesfällen kam, ging man hierzulande jedoch nicht.
    1887 näherte sich auch der Kulturkampf zwischen dem Papsttum und dem Reich seinem Ende. Waren 1875, wie in »Dezembersturm« aufgezeigt, noch katholische Lehrerinnen und Nonnen in die USA geflüchtet, weil ihnen in Deutschland die Erwerbsmöglichkeiten entzogen worden waren, so gelang es Papst Leo XIII . mit klugen Verhandlungen, die Stellung der katholischen Kirche in Deutschland wieder zu festigen.
    Ein letztes Wort noch zu dem aufschäumenden Nationalismus dieser Zeit, der keine drei Jahrzehnte später in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs mündete. Da die deutschen Behörden den französischen Zollkommissar Guillaume Schnaebelé als Spion verdächtigten,
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