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Joel 4 - Die Reise ans Ende der Welt

Joel 4 - Die Reise ans Ende der Welt

Titel: Joel 4 - Die Reise ans Ende der Welt
Autoren: Henning Mankell
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weinen. Das wollte er nicht. Er war fünfzehn Jahre alt und er war Seemann. Da sollte man nicht weinen. Kinder dürfen weinen. Und Erwachsene. Aber nicht einer, der fünfzehn geworden ist. Das ist ein Alter, in dem es verboten ist nachzugeben. Vor allen Dingen Tränen.
    Joel lauschte. Die Wände knackten. Er ließ die Gedanken und Erinnerungen durch den Kopf wandern. Immer hatte er in diesem Haus gewohnt. Einmal hatte es auch Mama Jenny hier gegeben. Aber eines Morgens hatte sie ihren Koffer genommen und war weggegangen. Damals war er so klein gewesen, dass er sich nicht daran erinnern konnte, als das passierte. In seinem ganzen Leben hatte es nur Samuel gegeben. Niemanden anders. Samuel mit dem krummen Rücken und den unrasierten Wangen, seinen müden Augen und seiner Sehnsucht nach dem Meer.
    Celestine
hatte es auch immer gegeben in ihrer Vitrine. Und die Seekarten, auf denen sie in ihrer Fantasie ihre gemeinsamen Reisen unternommen hatten.
    Joel fragte sich plötzlich, ob Samuel eigentlich selbst daran geglaubt hatte, dass er jemals wieder zur See fahren würde. Oder war es nur ein hoffnungsloser Traum gewesen? Schon von Anfang an? Joel wusste es nicht. Und jetzt war es zu spät für eine Antwort.
    Für alles, was gewesen war, war es nun zu spät. Samuel lag auf dem Friedhof. Er würde nie mehr mit jemandem sprechen. Seine Stimme war tot. Samuel mit seinen unrasierten Wangen. Und dem krummen Rücken.
    Joel versuchte es erneut zu verstehen. Was hieß es, tot zu sein? Wie lange würde man tot sein? Tausend Jahre? Oder mehr? Er dachte, das Allerbeste daran war, dass man so lange tot war. Was vorher gewesen war, bevor man geboren wurde, zählte nicht mehr. Aber hinterher, wenn das Leben zu Ende war, was gab es dann? Samuel war nicht nur für einen kurzen Spaziergang durch die Tür verschwunden. Er lag da unten in der Erde und würde so lange tot sein, dass niemand wusste, wann das Totsein ein Ende hatte. Oder gab es vielleicht gar kein Ende?
    Er merkte, dass die Magenschmerzen schlimmer wurden. Er stand auf und faltete das Laken zusammen. Es gab nichts, das ihm helfen konnte, wenn die große Unruhe über ihn kam. Aber es wurde leichter, wenn er sich bewegte. Die Decke legte er sich über die Schulter. Er ging in die Küche und setzte sich in die Fensternische. Es war eine kalte Nacht. Die einsame Straßenlaterne beleuchtete die verschneite Straße. Alles war ganz starr. Nur die unsichtbare Zeit verging. Irgendwo da draußen in der Dunkelheit und der Kälte wartete ein neuer Morgen.
    Plötzlich erinnerte Joel sich an die Nacht, als er in der Fensternische gesessen und den einsamen Hund gesehen hatte. Das war viele Jahre her. Diesen Hund hatte er nie vergessen. Jetzt merkte er, dass er wieder anfing darüber nachzudenken. Wohin war er unterwegs gewesen?
    Er schärfte seinen Blick. Plötzlich war er sicher, dass der Hund in dieser Nacht auf leisen Pfoten angelaufen kommen würde. Aus der anderen Richtung. Um sich zu verabschie den. Er spürte, wie sein Herz schneller klopfte. Aber die Straße blieb leer.
    Joel stand auf. Aus der Küche fiel Licht auf den Fußboden. Er schauderte. Plötzlich wollte er so schnell wie möglich weg. Die leere Wohnung erschreckte ihn. Jetzt knackte es nicht mehr in den Wänden. Es war, als ob sie jammerten. Vielleicht konnten auch Häuser trauern? Vielleicht trauerten die Wände um Samuel? Samuel, der da unten in der Erde lag und nie mehr die Treppe heraufgestapft kommen würde. Joel faltete die Decke zusammen und schnürte hastig seine Stiefel. Den Wecker hatte er auf den Küchentisch gestellt. Dann wurde er unsicher. Es war noch viel zu früh, um zum Bahnhof zu gehen. Aber er wollte nicht bleiben. Er nahm den Koffer und den Seesack und ging zum letzten Mal die Treppe hinunter. Auf der untersten Stufe blieb er stehen. Wie viele Male war er hier gegangen? Hinauf und hinunter? Wie viele Male war er gelaufen? Er wusste es nicht. Aber er konnte sich noch erinnern, wie stolz er war, als er die Treppe zum ersten Mal in drei Riesenschritten geschafft hatte.
    Dann hob er den Fuß. Der letzte Schritt. Zum letzten Mal. Jetzt konnte er nicht mehr umkehren.
    Als er die Haustür abgeschlossen hatte, zog er den Fäustling aus und schob den Schlüssel durch die Türritze. Es war kalt. Er zog den Schal über Mund und Nase. Was sollte er machen? Ein letztes Mal durch die alten Straßen gehen und dann zum Bahnhof? Er wusste es nicht. Aber als er auf die Straße hinauskam, entschied er sich. Ein letztes Mal
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