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Joel 4 - Die Reise ans Ende der Welt

Joel 4 - Die Reise ans Ende der Welt

Titel: Joel 4 - Die Reise ans Ende der Welt
Autoren: Henning Mankell
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wollte er über die Eisenbahnbrücke gehen. Wenn es einen Ort gab, von dem er sich verabschieden sollte, dann waren es die Brücke und der Fluss. Er ging die Straße entlang und bog beim Hügel ab, der zur Brücke führte. Die Bahngleise liefen direkt neben ihm her. Dort gab es ein klappriges Gestell, auf dem früher Milchkannen abgestellt wurden. Er legte Koffer und Seesack dahinter und begann zu laufen, um sich warm zu halten. Er hatte ein Gefühl, als ob mehrere Jungen neben ihm herliefen. Und das war er, in unterschiedlichen Altern. Plötzlich fühlte er sich umgeben von denen, die er früher gewesen war. Er blieb stehen, als er das Widerlager der Brücke erreichte. Jetzt war er wieder allein. Seine gespenstischen Begleiter waren fort. Der Brückenbogen wölbte sich hoch über seinem Kopf. Er konnte nicht widerstehen einen Fäustling auszuziehen und die nackte Hand auf das kalte Eisen zu legen. Die Kälte drang sofort in ihn ein. Er schauderte. Im selben Moment wusste er, dass da noch jemand war, von dem er sich verabschieden musste. Gertrud. Die nasenlose Gertrud, die in ihrem merkwürdigen Haus auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Aber etwas in ihm sträubte sich dagegen. Bestimmt schlief sie noch. Außerdem wollte er sich gar nicht von ihr verabschieden. Etwas wollte er behalten. Etwas, das ihn mit diesem Ort verband. Etwas, das ihm einen Grund gab, hierher zurückzukehren. Nicht nur um eine Palme auf Samuels Grab zu pflanzen. Sondern auch um Gertrud zu treffen und sich richtig zu verabschieden. Damit er keine kalten Füße bekam, lief er über die Brücke. Er blieb erst stehen, als er Gertruds Haus erreichte. In ihrer Küche brannte Licht. Er blieb vor der Pforte stehen, dann öffnete er sie vorsichtig und ging zum Fenster. Der Schnee knirschte leise unter seinen Stiefeln. Er stellte sich auf Zehenspitzen.
    Die Küche war leer. Manchmal ließ Gertrud ein Licht brennen, wenn sie schlafen ging. Sicher schlief sie noch. Er schlich weiter an der Hauswand entlang bis zu ihrem Schlafzimmerfenster. Als er seine Wange gegen die Fensterscheibe presste, konnte er ihr Schnarchen hören. Aber wie konnte ein Mensch ohne Nase schnarchen? Sofort tat ihm der Gedanke Leid.
    So sollte er nicht von Gertrud denken. Sie war eine der wenigen Freunde, die er hatte. Woher das Gefühl kam, wusste er nicht. Aber plötzlich war es, als ob er der einsamste Mensch geworden war, den es gab. Er meinte sich selbst aus der Distanz sehen zu können. Mitten in der Nacht, in der Kälte. Ein Junge von fünfzehn Jahren, der unter einem Fenster steht und zuhört, wie jemand schnarcht. Wieder überkam ihn die Lust zu weinen. Er ging weg, lief den Hügel hinauf, über die Brücke und blieb erst stehen, als er bei seinem Gepäck war.
    Als er sich danach bückte, entdeckte er Spuren im Schnee. Es waren nicht seine eigenen. Jemand anders war hier gewesen.
    Ein Hund.
    Er richtete sich auf und sah sich um.
    Versuchte ihn im kalten Mondlicht zu entdecken. Aber es gab keinen Hund. Er folgte den Spuren. Sie führten hinunter zum Fluss. Der Schnee lag hoch. Er musste sich hindurchpflügen. Aber jetzt wusste er, dass der Hund wieder da war. Der Hund, der einmal vor langer Zeit auf dem Weg zu einem entfernten Stern gewesen war.
    Er war wiedergekommen, und er war gekommen um sich zu verabschieden.
    Joel zwängte sich durch das dichte Gebüsch am Flussbett. Die Spuren führten geradewegs hinaus auf den gefrorenen Fluss. Er versuchte den Hund im Mondlicht zu sehen. Vorsichtig ging er auf das schneebedeckte Eis hinaus. Er schwitzte vor Anstrengung. Aber er konnte nicht umkehren. Nicht jetzt, wo er so nah war.
    Die Spuren der Pfoten waren deutlich. Bald war er weit draußen auf dem Eis. An seiner Seite erhob sich der Brückenbogen wie ein unförmiges Tier. Plötzlich waren die Spuren verschwunden.
    Joel sah sich um. Er begriff nicht, was er sah. Deutliche Pfotenspuren, die im Nichts verschwanden. Dort war kein Eisloch. Nur der weiße unberührte Schnee.
    Er schaute zum Nachthimmel hinauf und kehrte dem Mond den Rücken zu. Es gibt nur eine Erklärung, dachte er. Eine Erklärung, die jemand, der fünfzehn Jahre alt ist, eigentlich nicht glauben sollte. Dass der Hund aufgestiegen und auf unsichtbaren Flügeln davongeschwebt war. Zu dem Stern, den er zu seinem eigenen erkoren hatte.
    Ich muss kindisch sein, dass ich das für möglich halte, dachte Joel. Jetzt, wo mein Vater tot ist und ich schon Seemann bin, kann ich doch nicht mehr kindisch sein. Aber ich bin
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