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Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief

Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief

Titel: Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief
Autoren: Henning Mankell
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Träume würden die Oberhand gewinnen. Begann er zu denken, würde er sich bald Sorgen machen wegen Frau Nederström, sie könnte herauskriegen, dass er den Blasebalg von den Pedalen gelöst hatte. Und vielleicht hatte er doch Spuren hinterlassen, als er nachts in der Klasse gewesen war? Vielleicht Wassertropfen, die von seinen Stiefeln getropft waren und das Wort Joel auf dem Fußboden geformt hatten?
    Also träumen. Joel suchte sich von den Träumen einen aus, zwischen denen er wechselte, wenn er wach war. Wenn er im Schlaf träumte, konnte er es nicht bestimmen. Das Schiff, dachte er. Die Brigg »Drei Lilien«. Schwesterschiff von »Celestine«, die in ihrer Glasvitrine steht. Kapitän Gustafsson liegt in seiner Kajüte, schwer mitgenommen von einem entsetzlichen tropischen Fieber. Aber er hat seinen Geist noch nicht aufgegeben. Immer noch hat er den Befehl über sein Schiff…
    Jetzt hatten sie schon mehr als fünfzig Tage kein Land gesehen. Die Segel hingen schlaff an den Masten herunter. Das Wasser an Bord ging zur Neige. Zu essen war nichts mehr da als verschimmelter Schiffszwieback. Die Besatzung meuterte. Sie wollte, dass das Schiff umkehrte. Vor ihnen war nichts mehr als ein Abgrund. Das Schiff würde über den Rand geworfen werden und im unendlichen Meeresgrund versinken. Bald würde auch das Wasser ausgehen. Aber Kapitän Gustafsson verfügte über eine innere Karte, die ihm jede Nacht erschien. Auf der Karte hatte er gesehen, dass sie bald Land erreichen würden. Einen unbekannten Kontinent. Und dort würden sie an Land gehen und es würde das Paradies selbst sein.
    Jetzt hatten sie es erreicht. Nachdem sie vierundsechzig Tage kein Land betreten hatten. Eine tropische Insel. Papageien schnatterten in den Bäumen.
    Kapitän Gustafsson, der immer noch krank ist, wird an Land getragen. Plötzlich kommt ihm jemand entgegen. Zuerst kann er nicht erkennen, wer das ist. Dann sieht er, dass es eine nackte Frau ist. Er meint sie plötzlich wieder zu erkennen.
Wo
hat er sie schon einmal gesehen? Und dann weiß er es. Sie, die ihm am Strand entgegenkommt, sie, die ganz nackt ist, hat er in einer der Zeitschriften gesehen, die Otto heimlich während der Pausen auf dem Schulhof zeigt.
    Mit einem Ruck erwachte Joel aus dem Traum. Das war noch nie passiert. Dass ihm im Traum eine nackte Frau entgegengekommen war. Jedenfalls nicht so unerwartet. Früher hatte er immer selbst bestimmen können, wer in seinen Träumen auftauchte. Aber sie war von ganz allein gekommen. Da war noch mehr, was anders war. Dann fiel ihm ein, dass sie nicht nur jemandem aus Ottos Zeitschriften ähnlich gesehen hatte. Sie hatte ihn auch an die neue Verkäuferin bei Ehnströms erinnert.
    Joel wollte zurück in den Traum. Kuschelte sich in die Kissen. Doch was er auch anstellte, sie kam nicht wieder. Der Traum war weg. Er bekam ihn nicht mehr zu fassen. Aber er wusste, dass es etwas mit seinem Neujahrsgelübde zu tun hatte. Dass er im kommenden Jahr wirklich eine nackte Frau sehen würde.
    Etwas war im letzten Jahr geschehen. Etwas, das seine ganze Welt erschüttert hatte. Etwas in ihm. Luken, die geöffnet worden waren, geheime Türen.
    Gefühle waren wie Kammern hinter Türen. Das wusste Joel. Der Kummer hatte seine, die Enttäuschung ihre und die Lust auch. Das Leben war wie ein langer Korridor. Jede Tür, an der man vorbeikam, verbarg etwas, für das man sich entscheiden konnte. Oder dagegen. Wenn man anklopfte und eintrat. Wenn man überhaupt eingelassen wurde. Aber auch Türen, von denen man gehofft hatte, dass sie geschlossen bleiben würden, konnten sich unerwartet öffnen. Das hatte mit Ottos Zeitschriften zu tun; diese Frauen, die mehr oder weniger nackt auf Leitern herumkletterten, auf Balkonen vor einem Fotografen saßen, der knipste und knipste. Ob das, was sich in ihm abspielte, gut oder schlecht war, wusste Joel nicht. Aber es beunruhigte ihn. Es brannte. Otto konnte in den Pausen endlos erklären, wie alles zusammenhing. Er zischte, während er redete. Nicht zu laut und nicht zu leise, bestimmt nur für die, die sich um ihn versammelt hatten. Keine Mädchen, nur Jungen. Und Otto zischte. Von den Geheimnissen der großen Mädchen. Joel hatte sehr genau zugehört. Aber gleichzeitig misstraute er Otto. Nicht von ungefähr waren sie meistens Feinde. Otto prahlte. Aber andererseits war Joel nicht ganz sicher. Das konnte man nur sein, wenn man es selbst genau wusste. Wenn überhaupt.
    Joel dachte an die Frau in seinem Traum. Wie sie ihm
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