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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt
Autoren: Mike Mignola
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Molly nie kennengelernt. Gleiches hätte sie auch gern von ihrer gleichgültigen Mutter behauptet, die es kaum registriert hatte, als Molly davongelaufen war, nachdem sie beide einen endlos langen Winter in einem Haus verbracht hatten, das von Huren und Keuchern besetzt worden war. Molly wollte gar nicht erst an diese Monate zurückdenken und zog es vor, sie als schlechten Traum zu betrachten.
    Sie hatte in der Brandruine des Fischimbisses Unterschlupf gefunden. Die Zeit dort war eine Erholung gewesen im Vergleich zu dem langen Winter im Hurenhaus. Molly war dort relativ sicher gewesen, denn kein noch so verwegener Keucher war dumm genug, sein Leben in einem Gebäude aufs Spiel zu setzen, das jeden Moment zusammenbrechen und im Kanal versinken konnte. So war Ray’s Smokefish Mollys erstes richtiges Zuhause geworden. Keine gleichgültige Mutter. Keine gefährlichen Keucher. Niemand, der sie anfassen oder zum Kiffen verleiten wollte. Niemand, der sie anstarrte, als wäre sie eine von ihnen und als wäre es ihr vorherbestimmt, auf das bloße Nicken eines schmuddeligen Hausbesetzers hin zu sterben.
    Jeden Tag hatte Molly auf dem Dach von Sharkey’s Pub hinter einem Schild gehockt und gegessen, was sie sich von der alten koreanischen Kellnerin erbettelt hatte, die während ihrer Raucherpausen auf den Balkon an der Rückseite des Gebäudes gekommen war. Jedes Mal waren Lachen, Musik und Rauch aus der Kneipe vier Etagen über dem Wasserspiegel gedrungen; die verlassenen Stämme Lower Manhattans richteten sich in den überfluteten Ruinen ausschließlich nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit ein.
    Dann, eines Tages, als Molly wieder einmal auf dem Dach von Sharkey’s Pub gewesen war, hatte sie Felix kennenlernt. Sie erinnert sich so gut daran, als wäre es gestern gewesen.
    Ein Glas war zersprungen, und Molly war zusammengezuckt, weil das Klirren so nahe erschienen war. Doch es hatte an der eigentümlichen Akustik gelegen: Das Geräusch war aus den Lüftungsrohren auf dem Dach gedrungen. Dann hatte sie das Klacken von Holz und ein Knarren an den Mauern unter ihr vernommen   – leise, wie aus weiter Ferne, denn die Schluchten der Stadt bildeten Echokammern, die das kleinste Geräusch verstärkten. Molly hatte sich unter das Maul des Hais im Schild von Sharkey’s Pub an die Dachkante gekauert und beobachtet, wie eine fremde Gondel durch den engen Kanal steuerte, von zwei Gondolieri gelenkt, die das kleine Boot mit langen Stangen von den Hausmauern abstießen, um es ohne Segel oder Motor voranzutreiben. Sie hatten nur einen Passagier gehabt, einen alten Mann, der im Heck der Gondel saß, die Hände aufeinandergelegt und das Kinn erhoben, als säße er Modell für ein Porträt.
    So hatte Molly McHugh zum ersten Mal Felix Orlov zu Gesicht bekommen.
    Ein paar Minuten später, als sie eine baufällige Brücke aus Seilen und Planken überquerte, einen halben Häuserblock von der Ruine des Fischimbisses entfernt, hörte Molly wütende Schreie und gedämpftes Gelächter. Das Krachen von berstendem Holz hallte von den umgebenden Hausfassaden wider wie ein Pistolenschuss. Molly kletterte über die Brücke, duckte sich unter einem scheibenlosen Fensterbogen im Gebäude von Oracle Publishing hindurch, rannte durch Büros voller Bücherregale, in denen Missionare aus Uptown ein Zentrum für die verlorenen Jungen und Mädchen von Midtown und Lower Manhattan eingerichtet hatten, und flitzte hinaus und zur Feuertreppe an der anderen Außenmauer des Gebäudes.
    Unter ihr wurde die Gondel plötzlich von Wasserratten angegriffen. Die vier Raubmörder   – junge Kerle um die zwanzig   – hatten bereits einen Gondoliere getötet, als Molly geräuschlos auf das Stahlgitter über ihren Köpfen glitt. Im nächsten Moment holte eine der Ratten mit einer Gondelstange nach dem alten Mann aus, der sich im Heck des kleinenBootes duckte. Der zweite Gondoliere ließ Boot und Passagier im Stich, sprang ins Wasser und schwamm in panischer Hast davon. Zwei der Raubmörder setzten ihm nach und überließen ihren beiden Kumpanen den alten Mann.
    Der vielleicht gar nicht so alt war.
    Er stand auf. Sein helles Haar leuchtete im Dunkeln wie eine Boje. Er stellte sich den Raubmördern zum Kampf, wobei er den Kopf hin und her wiegte wie eine Schlange, und sprach zu ihnen, aber so leise, dass Molly nicht verstand, was er sagte. Die linke Hand hielt er vor der Brust und bewegte sie langsam vor und zurück, sodass Molly ihn im ersten Moment für betrunken
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