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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt
Autoren: Mike Mignola
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sich schreiend und voller Verzweiflung auf der Altarplatte windet. Der Okkultist lächelt erwartungsvoll. Jetzt ist sein Augenblick gekommen. Er hält das Pentajulum über die Brüste der geschundenen Frau. Plötzlich runzelt er die Stirn und schüttelt den Kopf. Orlov erkennt, dass der Plan des Okkultisten nicht aufgeht, aber der Verrückte weigert sich, seine Niederlage hinzunehmen.
    In den dunklen Winkeln der Kammer regt sich etwas. Ungesehenhat sich ein Beobachter zu der Frau und ihren Peinigern gesellt   – aber er ist kein Traumgespenst, kein geisterhafter Besucher wie Orlov. Die anderen in der Kammer merken nichts davon. Selbst der Okkultist scheint die Ankunft des Fremden nicht bemerkt zu haben. Er achtet nur auf die Schwangere.
    Dann erscheint ein Ausdruck der Panik auf dem Gesicht des Okkultisten.
    Der Leib der Frau klafft auf. Orlov beobachtet es mit einem solchen Grauen, dass er sich wünscht, nichts von der Finsternis der Ewigkeit zu wissen. Das geschwollene Fleisch der Frau ist weder zerrissen noch hat sie eine monströse Kreatur geboren. Vielmehr muss Orlov an blühende Blumen denken, als ihr Unterleib sich zu einer Rosenblüte aus gezahntem, von purpurnen Adern durchzogenem Fleisch entfaltet.
    Der Okkultist kreischt vor Wut. Seine Schreie hallen von der Gewölbedecke wider, fangen sich in den Bögen, wettern durch die Kammer. Nur die Fische, die an den Fenstern vorbeischweben, bleiben teilnahmslos wie immer.
    Der Leib der Frau blüht weiter auf, öffnet sich immer mehr, bis sie kaum noch etwas Menschliches hat. Dann welkt die Blume so schnell, wie sie erblüht ist, und färbt sich braun. Und während sie verfällt, stößt die Frau einen schwächlichen Schrei aus.

    Das Gespenst Orlovs des Beschwörers brüllt erschüttert auf. Es ist ein geräuschloser Schrei grellen Entsetzens.
    Orlov ist sicher, dass er Brandgeruch wahrnimmt.
    Nackte Verzweiflung packt ihn.
    Dann umfängt ihn undurchdringliche Schwärze.

    Steif und mit schmerzenden Gliedern erwachte Felix Orlov und drehte sich auf seinem Bett herum. Er öffnete die Augen zu schmalen Schlitzen und starrte in das staubige Halbdunkel seines Zimmers. Augenblicklich verabscheute er das Gewicht seines altersschwachen Körpers und den quälenden Druck in seiner Blase. An einem anderen Morgen hätte er vielleicht eine bequemere Lage gefunden und seine Blase dazu gebracht, ihm noch eine Stunde Schlaf zu lassen, doch wozu? Heute hatte der Schlaf ihm kein Asyl geboten. Heute war der Schlaf ein Hort des Schreckens. Seine Träume schenkten Felix keine Zuflucht vor der alltäglichen trostlosen Langeweile, zu der sein Leben verkommen war.
    Nicht solche Träume.
    Felix schauderte bei der Erinnerung.
    Aufgewühlt lag er da und wartete, dass die schrecklichen Bilder zerbröckelten und aus seinem Kopf verschwanden, so wie die meisten Träume binnen weniger Minuten nach dem Erwachen. Doch heute blieben die Bilder. Panik befiel ihn. Er riss die Augen auf. Er wollte diese Bilder nicht in seinem Kopf! Wie schmutzige Spinnweben hingen sie in den dunklen Winkeln seines Bewusstseins. Doch statt zu verblassen, als der Morgen voranschritt, wurden sie immer lebhafter.
    »Hinaus mit euch«, flüsterte er und klopfte sich mit seinen von der Arthritis geschwollenen Knöcheln gegen die Stirn, als könne er dadurch einen inneren Schalter umlegen.
    Schließlich schob er mit einem trockenen, freudlosen Lachen die Bettdecke zur Seite, schwang die Beine über die Bettkante und setzte sich auf. Er drückte die Hände ins Kreuz und drehte den Kopf, um denNacken zu dehnen. Das Knacken und Knirschen gemahnte ihn an alte Verletzungen und den allmählichen Verfall seines Körpers.
    Mühsam erhob Felix sich vom Bett und schlurfte zur Badezimmertür. Der Einrichtung seines Schlafzimmers schenkte er längst keine Aufmerksamkeit mehr. Bewusst ließ er den Blick nicht auf den verblichenen Scharlachvorhängen aus Thailand ruhen oder auf den Plakaten, die in gesprungenen Rahmen an den Wänden hingen. Es waren alte Plakate, die die Zauberkünste Orlovs des Beschwörers priesen und die faszinierenden Auftritte jener Magier, die ihn als Jungen inspiriert hatten: Thurston und Fezzini, Blackstone und Houdini.

    Obwohl Felix diese Plakate nicht mehr gerne betrachtete   – genauso wenig wie die vielen anderen Erinnerungsstücke in diesem Zimmer   –, standen sie ihm immer noch vor Augen. Er wusste, dass sie nach den vielen Jahren von einer Staubschicht bedeckt waren, die sie so verschwommen und
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