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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt
Autoren: Mike Mignola
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stabilen Feuertreppe. Felix machte sich keine Sorgen, dass von dieser Seite aus Plünderer in Haus kommen könnten. Das Gebäude, das dort stand, war nur drei Stockwerke hoch und deshalb fast vollständig unter der Wasseroberfläche verschwunden. Bei Ebbe konnte Felix die Ruderfußkrebse auf dem Dach sehen, das halb eingestürzt war, und auch die langen, silbrigen Wesen, die dort im Dunkeln schwammen.
    Wieder blickte er die 29 th Street hinunter, auf die Leitern und wackligen Laufstege, die sich kreuz und quer dahinzogen, auf glitschige Planken, die Hausdächer überspannten, und auf provisorische Brücken aus Holz und Eisen, Seilen und Stahlkabeln   – die einzigen Fußwege, die die Menschen von Lower Manhattan seit fast einem halben Jahrhundert kannten. Uptown in seinem funkelnden, modernen Reichtum unterschied sich nicht sehr vom New York früherer Tage, doch in Lower Manhattan und einem Großteil Brooklyns hatten die Menschen eine neue, archaische Gesellschaft errichtet. Zur Hölle mit Uptown war vor langer Zeit ein beliebter Slogan gewesen, als Felix in den besten Jahren gewesen war. Die wahre Hölle aber war die Versunkene Stadt. In dieser Welt zu überleben, war eine Kunst.
    Ein nachdrückliches Pochen an der Tür riss Felix aus seinen Gedanken. Das Wassertaxi hatte er unter dem Laufsteg an der Front desGebäudes, an der alten Leuchtreklame, aus den Augen verloren, aber er wusste auch so, wohin es fuhr.
    Felix strich sich das fadenscheinige Jackett glatt und ging hinaus auf den Flur. Über dem abgeschotteten, überfluteten Theater befanden sich zwei Etagen mit Zimmern, verbunden durch eine Treppe. Felix wohnte im oberen Stock. Früher hatte er die untere Etage vermietet, aber heute nahm er kein Geld mehr damit ein.
    Wieder klopfte es leise, aber drängend.
    »Ich komme«, sagte Felix seufzend.
    Er schloss die Tür auf und öffnete sie. Vor ihm stand die vierzehnjährige Molly McHugh, seine Assistentin. Sie arbeitete gegen Kost und Logis für ihn, bewohnte das Geschoss unter ihm und servierte ihm dort jeden Morgen das Frühstück.

    Wie immer strahlte Molly ihn auch an diesem Morgen an, ganz Sommersprossen und rotes Haar und jugendliche Spannkraft   – ein Anblick, bei dem Felix sich jedes Mal lebendiger fühlte.
    »Felix   …«, begann sie.
    »Was klopfst du immer so ungeduldig?«, unterbrach er sie. »Wann begreifst du endlich, dass ich zu alt bin, um mich so schnell zu bewegen, wie du es gern möchtest?«
    »Jemand muss dich in Schwung halten!« Molly schob eine Hüfte vor, als wäre sie es, die ihn zügeln müsste. Und nicht selten tat sie es sogar. »Ich wollte dir nur sagen, dass dein Frühstück fertig ist. Aber daraus wird wohl nichts. Ich habe draußen ein Taxi gesehen. Anscheinend kommt dein Neun-Uhr-dreißig-Termin zu früh.«
    »Tatsächlich?«, stellte Felix sich unwissend. Molly war so stolz auf ihre Rolle als seine Assistentin, dass er es nicht übers Herz brachte, ihr zu eröffnen, dass er die Ankunft des Taxis ebenfalls bemerkt hatte. »Nun, da lässt sich wohl nichts machen. Dann muss das Frühstück eben warten.«
    Ehe Molly etwas erwidern konnte, begann es im ganzen Gebäude zu klingeln, als unten am Wasser jemand am Seil zog.
    Felix’ Besucher war eingetroffen.
    Er konnte fast schon die Gespenster hören, wie sie in den dunklen Ecken raschelten.

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Kapitel 2
    E s gefiel Molly nicht, wie Felix aussah. Sie erlebte ihn nicht zum ersten Mal müde und zerstreut, aber heute war es anders. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, und die ohnehin tiefen Furchen in seinem Gesicht wirkten noch ausgeprägter als sonst. Felix bemerkte, wie das Mädchen ihn musterte, und setzte ein Lächeln auf, das ein Fremder ihm vielleicht abgenommen hätte, doch Molly, seine Assistentin und Freundin, konnte er nicht täuschen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
    »Was ist mit dir, Felix?«, wollte sie wissen.
    Der alte Beschwörer runzelte die Stirn und versuchte, ihre Frage mit einem Schulterzucken abzutun. »Es sind meine Träume«, sagte er   – sowohl ein Geständnis als auch ein weiterer Versuch, das Mädchen vom Thema abzubringen. »Das gibt sich wieder.«
    Doch Molly kannte ihn viel zu gut, als dass sie sich täuschen ließ.
    Vor zwei Jahren waren sie einander in der Dunkelheit eines Kanals in TriBeCa begegnet. Molly hatte in den rußgeschwärzten oberen Etagen der Ruine von Ray’s Smokefish gewohnt, einem heruntergekommenen Fischimbiss, der einem Brand zum Opfer gefallen war. Ihren Vaterhatte
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