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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt
Autoren: Mike Mignola
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doch 1925 wusste man noch nichts davon. Damals betrachteten die Einwohner New Yorks sich als Opfer göttlichen Zorns. Sie sprachen von Sodom und Gomorra, von den Sieben Plagen und den Prüfungen Hiobs, als Hochhäuser zusammenbrachen und ungeheure Wassermassen in die Stadt fluteten.
    New York wurde in die reiche, glitzernde Uptown und die schmutzige, versinkende Downtown zerrissen, wo die Armen blieben und um ihr Leben kämpften, denn es gab keinen anderen Ort, an den sie gehen konnten. Statt ihre Häuser aufzugeben, passten sie sich den veränderten Bedingungen an, so gut sie es vermochten. Sie schotteten die überfluteten unteren Etagen der noch bewohnbaren Gebäude ab und gründeten eine bislang nie da gewesene Lumpensammlergesellschaft.
    Die meisten Zurückgebliebenen sorgten auf eigene Faust für ihr Überleben, doch es gab auch behelfsmäßige Läden und sogar Wirtshäuser, wo die zum Bleiben Entschlossenen   – oder die zum Gehen Unfähigen   – wenigstens so tun konnten, als lebten sie noch in Amerika und als wüssten sie noch etwas von der Zivilisation.
    Die Jahre zogen vorüber. Die Menschen in Downtown ignorierten, was sie im Norden sahen   – so wie die Menschen in Uptown vorgaben, die Versunkene Stadt existiere gar nicht, obwohl sie nur einen Steinwurf entfernt war. Uptown gedieh weiterhin, erblühte mit neuen Geschäften und funkelnder, moderner Architektur, während Lower Manhattan zu einer finsteren Welt aus stinkenden Kanälen und baufälligen Brücken, gefährlichen Schatten und rebellischen Geistern wurde. »Die Versunkene Stadt«, so nannten sie einige ihrer älteren Bewohner. Für Felix war sie nach wie vor New York, sein Zuhause.
    In Lower Manhattan wurde weiter Theater gespielt, doch es war eher ein derbes Spektakel, aufgeführt vor einem Publikum, das sich Ablenkung von der Trostlosigkeit des Alltags erhoffte und oft gar nicht die Bedeutung dessen verstand, was es zu sehen bekam. Felix war seit mehrals vierzig Jahren nicht mehr auf einer Bühne aufgetreten, und er versicherte sich immer wieder, dass er es nicht vermisste.
    Er setzte seine Brille auf, nahm seine Taschenuhr aus dem Sekretär und ließ den Deckel aufschnappen. Viertel vor neun. Er hatte länger geschlafen als gewöhnlich, gefangen im Griff seines schrecklichen Traumes, doch vor seinem Termin heute Morgen blieb ihm noch Zeit, einen Happen zu essen.
    Er ging zum Fenster und zog die scharlachroten Vorhänge zur Seite, um nach dem Wetter zu sehen. Eine Flut aus grauem Licht strömte ins Zimmer, und ein Sturm aus winzigen Staubflocken wirbelte umher, als Felix sich vorbeugte und nach draußen schaute. Ein leichter Regen sprenkelte die Scheibe, und die Wellen auf der überfluteten 29 th   Street kräuselten sich an der Oberfläche. Laut tuckernd beförderte ein Dampftaxi seine Passagiere durch die Kanäle der Versunkenen Stadt. Oft befuhren auch chinesische Gondolieri die Gewässer dieser Gegend, aber heute sah Felix keinen von ihnen.
    Er blickte in die andere Richtung und beugte sich weiter vor, damit er an den Überresten der Leuchtreklame vorbeischauen konnte, die sein Wohnhaus einst in strahlendem Neonlicht als das Crown Theater ausgewiesen hatte. Das Theater verrottete seit Langem unter dreißig Fuß Meerwasser, dessen Salz die Bühne, die Kulissen und die Sitze zerfraß und die Tapeten von den Wänden schälte.
    Vor vierzig Jahren hatte Murray Feinberg die Treppe, die hinunter zum Theater führte, mit Beton verschlossen, der den Schimmel und die Wasserratten daran hindern sollte, auf diesem Weg hereinzukommen, doch der Schimmelgeruch hing hier ebenso in den Wänden wie in fast allen anderen alten Gebäuden der Versunkenen Stadt. An den meisten Tagen half es nicht viel, die Fenster offen zu lassen. Die Meeresluft war oft mit schmierigem Ölrauch verschmutzt, den die Motoren ausstießen, die den Strom für die Versunkene Stadt erzeugten. Hinzukam der Rauch aus den Fabriken, in denen viele jener New Yorker arbeiteten, deren Eltern und Großeltern damals dem Wasser nicht hatten weichen wollen.
    New Yorker. Der Gedanke ließ Felix lächeln.
    Weiter unten stampfte das Taxi, das schwarzen Qualm ausstieß, auf die Fassade des Theaters zu. Eine Klingelschnur hing dort herunter. Wenn Felix das Haus verließ oder jemanden empfangen wollte, drehte er eine Kurbel, und eine Eisenleiter senkte sich herab und überbrückte den schmalen Abgrund zwischen dem Theater und dem Nachbargebäude mit der ein Jahrhundert alten, aber noch immer
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