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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt
Autoren: Mike Mignola
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und von allen aufgegeben worden war, die mehr Verstand und weniger Starrsinn besaßen als Felix, war Würde ein seltenes Gut, das stets mühsam neu erarbeitet werden wollte. Es störte ihn nicht, dass die Kleidungsstücke lose um seinen Altmännerkörper hingen. Er bezweifelte, dass ihm noch viele Jahre blieben, die Sachen zu tragen.
    Als Felix sich auf die Bettkante hockte und die Schuhe anzog, verblasste der Traum allmählich. Er atmete auf, denn solche Albträume störten ihn in seiner Konzentration, und die brauchte er noch.
    Felix’ Gedanken schweiften in die Vergangenheit.
    Wenngleich er unter dem Namen »Orlov der Beschwörer« in bescheidenem Rahmen als Zauberer bekannt geworden war, hatte er seine Bühnenlaufbahn als Spiritist begonnen, als Medium, das in der Lage war, die Gedanken des Publikums zu lesen und mit seinen verstorbenen Liebsten zu kommunizieren.
    Diese Fähigkeit war echt. Als Kind hatte Felix einen schrecklichen Unfall erlitten, der ihm die Mutter genommen hatte. Er selbst hatte qualvolle Monate der Genesung hinter sich bringen müssen, die ihm zudem eine unerwünschte Gabe beschert hatten: Die Toten flüsterten mit ihm. Manchmal scharten sie sich in Mengen um ihn; aber das kam nur selten vor. Meist hörte er ein gelegentliches Wispern, ein Flehenaus dem Jenseits, eine Nachricht an jemanden, der noch lebte. Und jedes Mal, wenn er Kontakt zu den Geistern aufnahm   – bei jedem Bühnenauftritt und jeder privaten Séance   –, empfand er die Trauer über den Tod seiner Mutter intensiver als zuvor, war sie doch der einzige Geist, mit dem er nicht in Verbindung treten konnte. Was für eine Ironie!
    In seinen dunkelsten Stunden fragte sich Felix, ob seine Mutter ihn hörte, sich aber weigerte, ihm zu antworten. Aber so war es sicher nicht: Wahrscheinlich war sie so vollständig in das nächste Leben übergewechselt, dass sie sich außerhalb der Reichweite seiner Stimme befand. Doch in mancher langen Nacht plagte ihn diese Frage noch immer.
    Orlov der Beschwörer war nie wirklich berühmt geworden. Stets hatte er um seinen Lebensunterhalt kämpfen müssen, zumal er unfreiwillig an New York gebunden war: Verließ er die Stadt nur für wenige Tage, wurde er krank. Deshalb hatte er nie die Möglichkeit gehabt, in den großen Theatern von Chicago und Philadelphia oder gar im Ausland aufzutreten   – in jenen Städten, die von den Überflutungen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht so schwer verwüstet worden waren. Deshalb hatte Orlov nie eine echte Chance gehabt, sich Ruhm zu erwerben.

    Er hatte sich im ertrunkenen, versunkenen New York eingerichtet, in den Überresten des Crown Theaters an der 29 th Street. In dieser gespenstischen Umgebung dämmerte er dahin wie eine der Requisiten, die hinter der Bühne vergessen worden waren und mit jedem Tag mehr Staub ansetzten.
    In den Jahren vor der Verwüstung hatte das Zentrum des Theaterviertels von New York City sich langsam nach Norden verschoben, vom klassenkämpferischen Astor Place Theater im Jahre 1849 zum Union Square in den 1870ern und schließlich zum Madison Square um die Jahrhundertwende. Das Broadway-Theater hatte alles Mögliche aufgeführt, vom Shakespeare-Drama bis zur Burleske, und von jeher waren dort auch Magier, Illusionisten und Spiritisten aufgetreten.
    Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte New York sich dann zum Kreuzweg der Welt verwandelt, zu einem einzigartigen Zentrum des Handels, der Finanzen und der Unterhaltung. Dann warfen Seuchen und Aberglaube einen dunklen Vorhang über den europäischen Kontinent und beendeten den Ersten Weltkrieg, ehe Amerika zu viele seiner Söhne opfern musste, und New York schickte sich an, das schönste Juwel in der neu geschmiedeten Krone des Staates zu werden. Mehrere Jahre lang war die Stadt ein Traum von Wohlstand und Glück gewesen.
    Bis zu der großen Verwüstung von 1925. Eine Katastrophe nach der anderen hatte Städte mit Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Springfluten heimgesucht.
    Die ersten Erdstöße hatten sich im Sommer 1922 ereignet, aber sie waren bloß ein harmloses Vorspiel zur wahren Katastrophe gewesen, die begann, nachdem die Stadt Anfang 1925 die Winterkälte abgeschüttelt hatte. Der Schnee schmolz, der Regen kam, und die Flüsse schwollen an und stiegen über die Ufer. Jahre später entdeckten Admiral Benjamin Wheeler und seine Polarexpedition Veränderungen im antarktischen Schelfeis, die zahlreiche Spekulationen über den Anstiegdes Meeresspiegels auslösten,
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