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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt
Autoren: Mike Mignola
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die ihr Unbehagen bereitete. Doch mit der Zeit hatte sie begriffen, dass es nicht die Geister der Toten waren, die sie fürchten musste. Wenn Geister Seite an Seite mit den Lebenden existierten, wenn nach dem Tod des Körpers die Seelen auf Erden verweilten, musste sie auch die Möglichkeit akzeptieren, dass es noch etwas anderes gab als die Geister der Verstorbenen.
    Etwas Finsteres, Bedrohliches, Abscheuliches.
    Die Fenster standen einen Spalt weit offen, und ein leichter Wind wehte in den Raum und zupfte an den Vorhängen. Die gemalten Augen Dutzender Statuen und Gemälden von Heiligen und Jungfrauen wachten über das Geschehen. Die Kunstwerke aufzustellen, war Mollys Idee gewesen; sie gehörten zu Felix’ Arbeit, mehr aber auch nicht. Als Molly klar geworden war, was Felix hier tat, hatte sie erklärt, die religiöse Symbolik würde seinen Kunden größeres Vertrauen in seine Fähigkeiten einflößen und sie dadurch gegenüber den Geistern, die sie kontaktieren wollten, aufgeschlossener machen. Für Felix war seine Gabe etwas Normales; er konnte eine Séance überall durchführen. Doch Molly hatte ihm klargemacht, dass andere Menschen den Kontakt mit der Geisterwelt nicht als alltäglich betrachteten und überzeugt werden mussten, dass das, was Felix tat, wahrhaft außergewöhnlich war.
    Aus der östlichen Ecke des Séanceraums, in dem sie nun stand, blickte Molly sich um und bewunderte ihr Werk. Das Morgenlicht fiel ins Zimmer und überzog alles mit einem angenehmen, warmen Leuchten, aber rings um den Tisch schienen die Schatten sich zu verschieben und an- und abzuflauen wie der Wind zwischen den Häuserschluchten.
    Das Theater knarrte und ächzte wie ein altes Segelschiff. Das Geräusch rührte von dem Wasser her, das in die unteren Stockwerke hinein- und wieder hinausströmte, sodass das ganze Gebäude zu atmen schien. Normalerweise empfand Molly die Geräusche als beruhigend, aber heute war irgendetwas anders als sonst; das hatte sie schon zu Beginn der Séance gespürt.
    Sie hätte Felix darauf ansprechen können, aber der hatte von Anfang an darauf bestanden, dass Mollys Rolle die einer Assistentin sei und dass sie niemals eine Séance unterbrechen dürfe. Dass sie jedes Mal in einer Ecke des Raumes stand, diente vor allem dazu, den Kunden deutlich zu machen, dass Felix auf keine Tricks zurückgriff und dass Mollys Anwesenheit allein der Unterstützung diente. Hätte sie mit am Tisch gesessen, wäre den Kunden womöglich der Verdacht gekommen, dass sie Felix dabei half, irgendwelche Trugbilder zu erzeugen.
    Obwohl Felix ihr stets versicherte, dass es nichts zu fürchten gebe, sorgte Molly sich bei jeder Séance um ihn. Doch bisher war nie etwas geschehen. Nie hatte der Kontakt zur Geisterwelt beunruhigende Folgeerscheinungen bei Felix hinterlassen, sah man von einer tiefen Traurigkeit ab, die ihm nach seinen Gesprächen mit den Toten oft lange Zeit zu schaffen machte.
    Heute jedoch beobachtete Molly voller Sorge, wie blass und verhärmt er aussah und wie steif er auf seinem Stuhl saß, die Stirn gerunzelt, mit traurig herabhängenden Mundwinkeln, zuckendem Gesicht und verzerrter Miene, als wäre ihm ein ekelerregender Geruch in die Nase gestiegen. Sein Atem ging in kurzen, heftigen Stößen, beinahe so, als schluchze er.
    Natürlich war auch Mrs.   Mendehlson das alles nicht entgangen.
    »Was ist, Mr.   Orlov?«, fragte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Ist etwas mit David?«
    Molly hätte die Séance am liebsten auf der Stelle abgebrochen: Felix hatte keinen Kontakt zu Davids Geist hergestellt, jedenfalls noch nicht.
    Felix antwortete nicht auf Mrs.   Mendehlsons Frage. Auf seinem Gesicht lag ein besorgniserregender Ausdruck, den Molly noch nie gesehen hatte. Wieder erschrak sie.
    »Felix?«, fragte sie leise, als er auf Mrs.   Mendehlsons Frage nicht reagierte, obwohl sie damit gegen zwei eherne Regeln ihres Dienstherrn verstieß: Sie durfte keine Séance unterbrechen, und sie durfte Felix niemals vor seinen Kunden duzen oder ihn auch nur mit dem Vornamen ansprechen.
    Wieder reagierte Felix nicht, obwohl er sich zumindest seine Verärgerung hätte anmerken lassen müssen. Doch wo immer Felix Orlov im Moment weilte, er konnte sie nicht hören.
    »Ob mit David etwas ist?« Mr.   Mendehlson rümpfte verächtlich die Nase. »Oh ja. Er ist tot.«
    Mrs.   Mendehlson zuckte zusammen, öffnete die Augen und bedachte ihren Mann mit einem verletzten Blick.
    »Alan, du bist ein Mistkerl!«, zischte sie. »Ich
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