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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt
Autoren: Mike Mignola
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einem bestimmten Winkel neigte, sah er fast so aus wie vorher, und Molly hätte glauben können, dass er noch immer ein Mensch war. Aber seine Umrisse waren zu grob, und im Schatten des Gebäudes fingen die Risse im Stein das Licht auf eine Art und Weise, die verriet, was Joe wirklich war.
    Er neigte den Kopf zur Seite, als hätte er aus einem unerfindlichen Grund die Erinnerung an sie verloren. Doch als Molly in seinen Augen suchte, fand sie dort inmitten all der Verwirrung einen winzigen Funken des Wiedererkennens.
    »Du hast mich Joe genannt«, sagte er. Seine Stimme knirschte und rumpelte.
    »Das ist dein Name«, erwiderte sie und versuchte ihre Antwort zu unterstreichen, indem sie seinen Arm fester drückte. Doch er schien es nicht zu bemerken. Seine Haut war kalter Stein. Molly kamen Zweifel, ob er ihre Berührung überhaupt spürte.
    »Echt?«, fragte er stirnrunzelnd.
    Molly nickte. »Joe«, wiederholte sie, sah ihm wieder in die Augen, versuchte ihm den Namen irgendwie einzuprägen.
    »Danke«, sagte er. »Ich versuch, ihn nicht zu vergessen.«
    Joe kniff die Augen zusammen. Sie waren aus Stein, aber irgendwie immer noch menschlich, und sie zeigten ein ganz schwaches Leuchten, das von innen kam. Joe musterte Molly ein letztes Mal und schaute sie an, als wäre sie ein Rätsel, von dem er wusste, dass er es eigentlich lösen können müsste. Dann machte er einen Schritt zurück, drehte sich um und ging ohne Hast zum Geländer der Feuertreppe. Er packte den Gitterrost der Plattform über ihnen und zog sich hoch. Im nächsten Moment stand er auf dem Geländer, bereit zum Sprung.
    Molly durchlief eine Welle der Panik. »Warte!«, rief sie. Sie wusste nicht, wohin sie gehen oder was sie tun sollte. »Was machst du denn?«
    Joe runzelte die Stirn, als hätte sie ihm die dümmste Frage gestellt, die er je gehört hatte.
    »Hexen jagen.«
    Er ließ sich über den Rand der Feuertreppe fallen und stürzte in den Fluss. Wasser spritzte in die Höhe. Doch der Fluss strömte weiter, turbulent und voller Strudel, und nach einer Sekunde waren alle Spuren Joes ausgelöscht. Das Wasser schloss sich über ihm, als wäre er niemals dort gewesen.
    Betäubt und verloren starrte Molly auf die vorüberschießende Oberfläche des Flusses. Dann blinzelte sie und hob den Blick, betrachtetedas völlig unvertraute Panorama der Versunkenen Stadt und fragte sich, wohin sie gehen sollte. Ohne Felix hatte sie kein wirkliches Zuhause. Wenn das Theater nicht schwer beschädigt sein sollte, konnte sie dort wohnen, aber sie würde sich dort nicht so fühlen, als gehörte sie dorthin.
    Sie blickte flussabwärts und beobachtete, wie das Wasser zum Atlantik strebte. Ihr wurde klar, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als Joe zu begleiten. Ebenso wie mit seinem Körper war auch mit seinem Verstand etwas geschehen. Sein Gedächtnis war ruiniert. Selbst wenn er nicht mehr Joe war, wie sie ihn kennengelernt hatte, würde er dennoch jemanden brauchen   – einen Freund. Vielleicht jetzt mehr denn je.
    Einen Freund , dachte sie. Und dann fluchte sie leise und begriff, wohin sie sich wenden musste.
    Die Feuertreppe war unterhalb ihrer Plattform zu stark beschädigt, um sie zu benutzen, aber das war nicht schlimm. Molly konnte den Weg über die Hausdächer nehmen oder durch die Gebäude hindurch und sich daranmachen, die neue Versunkene Stadt zu kartieren.
    Sie stieg die Eisenstufen hinauf. Die Gitterroste klingelten unter ihren Schuhen. Was immer es kostete, sie würde ihr Ziel erreichen.
    So viel schuldete sie Joe.
    Mindestens.

    Mr.   Churchs Gespenst erwartete sie schon, als Molly sein Studierzimmer betrat. Dadurch, dass sie bei einem Medium wohnte und mit ihm arbeitete, hatte sie schon Gespenster gesehen, aber noch nie so. Der Schemen überragte die staubigen Knochen, die einzigen Überreste Mr.   Churchs, und ließ in so überwältigender Reue, dass sie den ganzen Raum ausfüllte, den Kopf hängen. Nur der Mond und die Sterne sorgten für ein klein bisschen Licht. Der Geist besaß nicht mehr Substanz als Frühnebel, der sich im nächsten Moment verflüchtigen konnte.
    Nach ihrem ersten Blick auf Churchs Gespenst ging Molly vom einen Ende des Zimmers zum anderen in der Hoffnung, ihn besser erkennen zu können, doch statt sich zu verfestigen, schien er noch gestaltloser zu werden. Er hatte keinen Unterleib, und wo sich seine Hände befanden, waberten die Finger zwischen sichtbar und unsichtbar, als steckten sie in einer Wolke.
    Das Gespenst
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