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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt
Autoren: Mike Mignola
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starrte, wo die Strömungen aus den Nebenstraßen zusammenliefen.
    »Ach du lieber Gott«, flüsterte sie.
    »Nein«, erwiderte Joe ruhig. Molly begriff, was er meinte: Das Geschehen auf der Kreuzung hatte nichts mit einem Gott zu tun, den sie je kennengelernt hatte. Das Felix-Geschöpf hob sich aus dem Wasser. Seine Tentakel tanzten zum Himmel, während sein Unterleib weiter im Fluss wogte. Er stieg auf, löste sich völlig aus dem Wasser. Als er wieder aufschrie, waren Schmerz und Traurigkeit aus dem durchdringenden Heulen verschwunden. Was übrig war, kam Molly wie ein Lied der Sehnsucht, des Heimwehs vor.
    Und der alte Gott griff hinunter nach seinem Kind. Seine Gestalt wechselte noch immer, war nie fest, nie für das menschliche Auge fassbar. Dennoch senkte er lange, schlängelnde Tentakel nach unten, als würde er sich aus einer Dimension in die andere schieben. Je tiefer er griff, desto fester, stofflicher wurden die Tentakel, bis sie die seines Sprösslings umschlangen, sie liebkosten und umkreisten, sanft und liebevoll wie Elefanten mit ihren Rüsseln.
    Dr. Cocteau stürmte die Treppe hoch, wobei er einen Schrei ausstieß, dass Molly glaubte, er müsse sich die Kehle in Fetzen gerissen haben. Die zermalmte Hand hielt er noch immer schützend vor der Brust, als er auf die Plattform stürmte, auf der Molly mit Joe stand. Doch er schien kaum wahrzunehmen, dass sie dort waren; er rannte an ihnen vorbei und rempelte Joe, während er die Plattform zur nächsten Treppe überquerte.
    »Bitte!«, schrie er. Tränen liefen ihm die Wangen hinunter in den schmutzig weißen Bart. »Bitte lass mich nicht allein!«
    Molly schaute zu dem alten Gott und seinem Nachwuchs. Es kam ihr vor, als existierten sie bereits in einer anderen Wirklichkeit. Das Felix-Wesen stieg in die Luft und ringelte sich in die Lianen, die sein Vater ihm liebevoll entgegenstreckte. Gezackte Klingen aus Licht spannten sich über den Himmel, ohne dass Donner auf sie folgte. Was für einSturm sich auch über der Stadt zusammenbraute, er entstammte nicht der gleichen Dimension.
    »Nimm mich mit!«, schrie Cocteau. »Ich habe das alles ermöglicht! Mein ganzes Leben habe ich diesem Moment gewidmet! Du kannst mich nicht einfach hierlassen! Sieh mich doch an! Ich bin dein Bruder! Ich weiß, dass du mich siehst!«
    Er erreichte das obere Ende der Feuertreppe und beugte sich weit über das Geländer. Eine Hand griff mitleidheischend zum Himmel. Er war in dem menschlichen Körper gefangen, in dem er zur Welt gekommen und der jetzt zu seinem Anker geworden war.
    »Verlass mich nicht!« Der letzte, schaurige Schrei aus vollem Halse raubte ihm die Stimme. Danach konnte er nur noch in trauriger Pantomime den Mund öffnen und schließen.
    Molly sah gebannt zu, wie der alte Gott und sein Kind gemeinsam in die Höhe schwebten, doch sie stiegen nicht ins All auf. Die Schlitze in der Realität begannen sich zu schließen, so wie Wunden verheilen, und beide Geschöpfe verschwammen, als glitten sie eine Rinne entlang, die sie in die gewaltige unbegreifliche Dimension führte, in die sie gehörten.
    Cocteau sackte auf dem Geländer zusammen. Er sagte etwas, und Molly glaubte, die unhörbaren Worte zu verstehen, die seine Lippen formten. Sie sind so wunderschön.
    Wie von einem Windstoß bewegt schlängelte sich ein einzelner Tentakel des Felix-Geschöpfs herab, reckte sich und griff so schnell zu, dass Molly erst den Blick hob, als Cocteau laut auflachte. Sie sah, wie sich der Tentakel um den Verrückten wickelte.
    Sie hielt sich an Joe fest, dessen Steingesicht keine Regung zeigte, als Dr. Cocteau mit einer Miene höchsten Entzückens in die Luft gehoben wurde. Der Tentakel ringelte sich immer weiter um ihn und zog ihn sanft, aber rasch in den Himmel. Nach wenigen Sekunden konnte Mollyihn zwischen den verblassenden, pulsierenden Umrissen des alten Gottes und seines Kindes kaum noch ausmachen.
    Sie entglitten der Welt immer rascher. Ihre Silhouetten zerliefen wie Quecksilber und verloren sich im undimensionalen Raum. Stille war über die Stadt gefallen. Nur die Stimme des Flusses war zu hören, und wie der durchdringende Ruf eines großen Raubvogels hallte Cocteaus Schrei über die nasse Trümmerwüste.
    Als das Geschöpf, das einst Felix Orlov gewesen war, für immer aus dieser Wirklichkeit verschwand, fügten die Säume zwischen den Dimensionen sich wieder zusammen und zertrennten Cocteau in der Mitte seines Körpers. Die eine Hälfte seines Leichnams wurde durch den
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