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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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nicht mehr aus. Ich springe auf, drängle mich am fetten Riesen vorbei, stolpere den Mittelgang nach vorne, remple ein Plastikblumengesteck um und klettere auf die Bühne.
    Es ist heiß, das Licht ist gleißend grell, im Hintergrund höre ich die Kinder toben wie hinter einem Wall aus Watte, und vor mir hockt Kasperl mit seinem grinsenden
Raubvogelgesicht. Und jetzt platzt etwas in mir. Mit beiden Händen greife ich in den Wald hinein und kriege den Kasperlkopf zu fassen. Er fühlt sich ungewöhnlich kühl und hart
an. Die Augen sind glatt und tot wie Murmeln, der Blick nicht zu ertragen. Ich zerre und reiße an ihm. Sein Körper ist merkwürdig schlank, fest und stark. Er wehrt sich, windet
sich, krümmt sich. Doch mein Hass ist stärker. Und meine Angst sowieso. Es gibt einen Ruck, etwas knackst leise, etwas löst sich, und ich stolpere einen Schritt zurück. Da wo
eben noch Kasperl hockte, ragt nun eine Hand aus dem Waldboden. Ganz genau sehe ich die behaarten Finger, die kleine rosige Narbe am Daumenansatz und die dunkel geränderten Fingernägel.
Dann ist sie weg.
    In meinen Händen liegt der Kasperlkopf. Seltsam leicht liegt er da. Mit Kragen und Mütze. Aber ohne Körper.
    Ich schleudere das Ding von mir und falle einfach um. Ich sehe, wie der Kopf im Staubnebel durchs Scheinwerferlicht zischt und irgendwo im Dunkeln verschwindet. Einer der Pappbäume kippt,
der Waldboden bebt, die ganze Bühne wackelt und ein Mann taucht dahinter auf. Und gleich daneben eine junge Frau. Statt Händen wachsen Figuren aus ihren Unterarmen. Es sind Frosch und
Eichhorn. Hängen einfach so herum, schlaff und leblos. Es ist zuviel für mich. Ich liege auf den Brettern an der Bühnenrampe und heule. Wie durch einen Nebelschleier sehe ich die
Gesichter der Kinder im Zuschauerraum. Manche schauen erstarrt und mit aufgerissenen Mündern den Geschehnissen auf der Bühne zu, andere weinen, manche lachen, die meisten schreien. Ich
blicke hoch. Ein zarter Staubfetzen löst sich aus dem Dunkel der Decke und schwebt in sanften Schwüngen zu Boden.
    Plötzlich liegt eine Hand auf meiner Wange. Sie ist rau und warm. Sie gehört dem grauen Typ von vorhin. Er riecht nach Zwiebeln und hat schiefe Zähne. Aber ich mag ihn irgendwie.
Er hebt mich hoch und trägt mich auf beiden Armen durch den Mittelgang in Richtung Ausgang. Hinter uns auf der Bühne tut sich was. Jemand sagt ein paar Worte. Die Kinder applaudieren.
Musik erklingt. Die Saaltür fliegt auf. Der Vorraum ist kühl, hell und weit. Überall stehen und sitzen Erwachsene, unterhalten sich, rauchen, blättern in Zeitschriften, trinken
Kaffee. Und ganz hinten, an einem Tischchen vor der riesigen Fensterfront sitzen meine Eltern.
    Mama springt auf, ihr Stuhl knarrt, der Tisch wackelt, ein Löffelchen fällt klingelnd auf den Steinboden. Sie streckt die Arme nach mir aus, und hat mich und hält mich, und ihr
Schoß ist warm und weich und ich heule ihr einen dunklen nassen Fleck ins Kleid. Daneben steht Vater. Wie im Traum sehe ich ihn dastehen, klein, mager und schief, das Jackett ein bisschen zu
groß, der Krawattenknopf ein bisschen zu eng. Und hinter ihm rauscht das Wasser in unendlichen, dunklen Strömen die Scheiben hinab.

DER FEIND
    Ein paar Wochen darauf war Schulbeginn. Ich mochte die Schule von Anfang an nicht. Aus irgendeinem Grund war mir klar, dass nach dem Verzehr des Inhalts meiner riesigen
Schultüte nichts Gleichwertiges mehr nachkommen würde. Und so war es auch.
    Die Hermann-Conradi-Grundschule war der alte Anbau der noch viel älteren Hermann-Conradi-Realschule, die seit vielen Jahren wegen irgendwelchen Haushaltslöchern oder allgemeinen
Bildungsmiseren vor sich hin bröckelte. Weder Schüler noch Lehrer wussten, wer eigentlich dieser Hermann Conradi gewesen sein sollte. Und es interessierte auch niemanden. Ganz oben an der
großen Treppe im Foyer stand seine Büste, ein knochiger Glatzkopf mit Geiernase und fliehendem Kinn. Meistens klebte ein Kaugummi in seinem Gesicht und bildete ein Furunkel an der Wange,
eine Beule an der Stirn oder einen Rotztropfen unter der Nase. Die Zeiten des alten Hermann Conradi waren offensichtlich lange schon vorbei.
    Die Gänge waren lang und düster, die Decken hoch und fleckig, die steinernen Stufen ausgetreten von Tausenden und Abertausenden Kinderschritten. Im ganzen Gebäude hing
ständig der Geruch von feuchtem Mauerwerk und säuerlichem Kartoffelsalat, der Mittags in der überfüllten Mensa zu fast allen Gerichten
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