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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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Hof, hinüber zu meinem Platz am Gusseisentor.
    Sofort bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Da saß schon jemand. Hockte einfach da, den Hintern wie ich sonst zwischen die Gitterstäbe gezwängt, und starrte auf den Boden
hinunter. Ich kannte den Kerl vom Sehen. Er war ungefähr in meinem Alter und ging in die Nebenklasse. Ein kleiner Bursche, bestimmt einen Kopf kleiner als ich, aber fest und stämmig. Eine
verrotzte Kartoffelnase, ein winziges Mündchen, rote Backen und eigentümlich runde, hellblau glänzende Augen. Das Auffälligste an ihm waren seine ungewöhnlich blonden, fast
weißen Haare, die ihm in wirren Strähnen vom Kopf abstanden.
    Diese Karikatur eines aus der Zeit gefallenen Bauernbuben saß nun also ganz selbstverständlich auf meinem Platz und störte meine Pausenruhe. Ich beschloss, ihn nicht weiter zu
beachten, und setzte mich neben ihn.
    Eine Weile geschah nichts. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie er konzentriert das Ameisengewusel auf dem Boden betrachtete. Dabei zog er in kurzen Abständen laut schniefend
seinen Rotz in die Nase zurück. Plötzlich hob er den Kopf und sah mir direkt ins Gesicht.
    »Die mag ich nicht!«, sagte er mit einer Stimme, die klang, als hätte ihm jemand mit einer kleinen Harke den Rachen zerfurcht, dunkel, rau und heiser. Dann stand er auf und
begann auf den Ameisen herumzutrampeln.
    Das kam überraschend. Und tat weh. Ich sprang hoch, holte etwas ungelenk aus und schlug dem Blonden meine Faust mitten ins Gesicht.
    Ich hatte so etwas noch nie zuvor getan, körperlichen Auseinandersetzungen war ich immer erfolgreich aus dem Weg gegangen. Nun aber war der Bann gebrochen. Ich war einer von ihnen.
    Der Blonde schien sowieso schon lange dazuzugehören. Jetzt nämlich holte er seinerseits aus und ballerte mir eine Gerade direkt zwischen die Augen. Ich spürte den Schmerz kaum,
doch sicherheitshalber kippte ich nach hinten. Sofort warf er sich auf mich. Wir langten ordentlich zu, packten, was wir vom anderen in die Hände bekamen, die Arme, den Hals, die Ohren, die
Haare, und zerrten und rissen daran, so heftig wir konnten. Fest ineinander verkeilt, keuchend und schwitzend, wälzten wir uns im Dreck. Die Ameisen hatten keine Chance. Aber ich merkte es
nicht mehr. Ich war blind vor Wut, Schmerz und verletztem Stolz. Der Blonde vermutlich auch. Keiner von uns wollte unten liegen. Keiner wollte verlieren. Keiner gab nach. Keiner gab auf.
    Und hätte uns nicht der eilig heransprintende Sportlehrer Wolarek an den verschwitzten Schöpfen gepackt, mit Gewalt auseinandergerissen, uns links und rechts über seine
ochsenbreiten Schultern gehängt und wie zuckende Jagdtrophäen schnurstracks hoch ins Direktorenzimmer getragen, dann würden wir sicher, aber ganz hundertprozentig sicher, noch heute
in verzweifelt keuchender Umarmung über den Schulhof kollern.

BLUTSBRÜDER
    Direktor Oberstudienrat Heinrich Priem war der jüngste Spross einer uralten Bauernfamilie. Seit Jahrhunderten baute man Kartoffeln an. Schon als kleiner Junge musste
Heinrich gemeinsam mit seinen älteren Brüdern gebückt über die weiten Äcker schleichen und Kartoffeln aus dem Dreck klauben. Die Hände der Bauernleute waren über
die Jahre ihren Erdäpfeln immer ähnlicher geworden, hatten sich in rissige, merkwürdig verformte Knollen verwandelt. Die Hitze über den Feldern war unerträglich, die Sonne
verbiss sich in die Nacken, Schweiß brannte in den Augen, Staub füllte die Lungen. Doch die feuchte Morgenkälte war noch schlimmer. Heinrich konnte neben sich die breiten
Rücken der Brüder knarren hören. An manchen Morgen dampften ihre Leiber wie Rinder auf der taunassen Weide. Langsam und schwer stapften die klobigen Stiefel durch die Furchen und
durch die Tage. Das Gesicht immer der Erde zugewandt, die Augen leicht gerötet, die Blicke stumpf. Geredet wurde kaum. Schweigsam ging man zur Arbeit, schweigsam zog man übers Feld,
schweigsam ging man nach Hause. Weil unnötiges Gerede nur von der Arbeit ablenkt, sagte der Vater. Und weil es sowieso nichts zu reden gab.
    Der Vater ging voran, immer ging er voran, gab das Tempo vor, den Takt, bestimmte die Pausen, sprach das Gebet, teilte das Brot und ließ das Wasser fließen.
    Das Haus der Priems war fast so alt wie die Familie selbst. Einer der Vorväter hatte es errichtet, hatte schweigsam Stein auf Stein gelegt und war nach dem Richtfest vor Erschöpfung
tot vom Dach gekippt. Die Söhne, deren Söhne und wiederum deren Söhne
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