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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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auf die Teller gepanscht wurde. Das Essen
war ein höhnischer Witz, garniert mit brauner Soße. Aber der Hunger zwang uns, das Zeug hinunterzuwürgen. In diesem Alter waren unsere Mägen noch zäh und
unverwüstlich.
    Die Pausen verbrachten wir auf dem hoch ummauerten Schulhof an der Gebäuderückseite. Beton, rieselnder Putz, abblätternde Farbe, ein paar beschmierte Sitzbänke, ein mit
Brettern zugenageltes Gusseisentor und in einer Ecke ein schiefer Baum mit dürren, völlig blätterlosen Ästen. Neun Zehntel der Hoffläche wurden wie selbstverständlich
von den Großen für sich beansprucht. Die Mädchen versammelten sich zu kleinen Grüppchen, kicherten konspirativ, lachten schrill oder standen einfach nur geschminkt und unnahbar
herum. Die Jungs bildeten etwas größere Grüppchen, brüllten heiser, kratzten sich am Arsch, hatten Pickel im Gesicht und die Welt im Griff.
    Manchmal gab es eine Schlägerei. Dann bildete sich schnell ein aufgeregter Kreis um die Kämpfenden. Ganz vorne in der ersten Reihe platzierten sich die Jungs mit dem breitesten Stand,
neben ihnen die Bräute mit der dicksten Farbschicht im Gesicht, gleich dahinter die normalen Typen und die unauffälligen Mädchen und noch weiter hinten die Streber, die Zwerge und
die Fettsäcke. Ganz hinten, in der letzten Reihe, standen wir, die Kleinen, die Grundschüler.
    Ursachen für solche Auseinandersetzungen gab es viele: ein schiefer Blick, ein dummes Wort, eine blöde Frisur; das richtige Mädchen zur falschen Zeit, das falsche Mädchen zur
richtigen Zeit, die Fußballergebnisse, die politische Haltung, der Musikgeschmack, die schlechte Laune, die verletzte Ehre oder einfach nur das Scheißwetter. Aus jedem denkbaren Anlass
ging man aufeinander los. Manche schlugen sich mit den Fäusten die Gesichter ein, andere wälzten sich eng umschlungen und keuchend auf dem Boden. Meistens aber ging alles genauso schnell
vorbei, wie es begonnen hatte. Manchmal mischten sich die Mädchen ein, warfen sich hysterisch kreischend zwischen die Raufer und zerrten ihren Liebling von der Kampffläche, nur um ihm
für immer und ewig seine Verfehlungen vorwerfen zu können. Oder einer der Lehrer kam angerannt, seiner Autorität und seinem Status entsprechend entweder mit wilder Entschlossenheit
oder mit flackernder Angst in den Augen. Die Schläger wurden voneinander getrennt und ins Direktorenzimmer zitiert. Meistens kamen sie mit einer Verwarnung, immer aber als gefeierte Helden
wieder.
    Doch schon recht bald verloren diese Schulhofschlägereien ihre Attraktion für mich. Stattdessen verbrachte ich die meisten Pausen auf meinem Lieblingsplatz am gusseisernen Tor. Mein
kleiner Hintern passte genau zwischen zwei Gitterstäbe. Es war hart und ungemütlich, aber ich hatte den Platz für mich alleine. Hier konnte ich je nach Befindlichkeit entweder hoch
in den Himmel schauen oder hinunter auf den Boden starren. Oben zogen Flugzeuge und Träume vorbei, unten Ameisen und die Niederlagen des Schulalltags. Oft zeichnete ich mit den Schuhspitzen
Figuren und Männchen in den Staub. Die kleinen Kerle rannten herum, hatten Hunde, schwangen Äxte, kämpften miteinander oder erschlugen Lehrer. Als einzige Zeugen dieser Taten krochen
die Ameisen dazwischen herum. Irgendwie waren mir diese winzigen Tierchen sympathisch. Da rannten sie wie aufgezogen hin und her, wussten wahrscheinlich gar nicht warum und wozu, fragten aber auch
nicht nach und schienen alles in allem ganz zufrieden zu sein.
    Manchmal bückte ich mich und ließ eine Ameise auf meinen Daumen krabbeln. Eine Weile sah ich zu, wie sie unermüdlich im Kreis rannte, immer dem nahen, doch unerreichbaren
Daumenhorizont hinterher. Wie ein einsamer Mann auf einem winzigen Planeten. Nach einer Weile ließ ich sie wieder auf den Boden hinunter, wo sie sich im Gewusel zwischen ihren Kollegen
verlor.
    Schrilles Glockengebimmel. Ausatmen. Die Lehrer lassen die Hände mit den Kreiden sinken und sacken in sich zusammen, als ob durch einen kleinen Riss in ihren Körpern
ganz plötzlich alle Luft entweicht. Die ganze Klasse springt auf, alle schreien, lachen, heulen wie junge Wölfe und stürmen aus den Klassenzimmern, hinaus, hinaus auf den Schulhof,
ins Freie, ans Licht. Ich bleibe noch sitzen. Höre die Schritte in den Fluren verklingen. Sehe mir für einen Moment das Schweigen vorne an der Tafel an. Dann stehe ich langsam auf und
gehe.
    Wie immer trat ich als einer der letzten ins Freie und ging quer über den
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