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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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hatten weiter gemacht, immer weiter, hatten angebaut, zugebaut und umgebaut, Generationen hatten unter diesem
Dach gelebt, gegessen, gebetet, geschlafen, hatten Kinder gezeugt, ihr Vieh vor Gewitter und Sturm geschützt, hatten die letzten Tropfen der heiligen Kirche auf der heißen Stirn
gespürt und waren gestorben.
    Auch in der Stube regierte der Vater. Da saß er in seinem Sessel, die schwieligen Füße bis über die Knöchel im dampfenden Salzwasserpott, starrte in den Fernseher und
war das Wort und das Gesetz und das Gebot. Wer nicht gehorchte, wurde hörig gemacht, wer nicht folgte, wurde getrimmt.
    Die unterste Stufe der steinernen Kellertreppe hatte zwei über die Jahre ausgeschliffene Vertiefungen, genau an der Stelle, an der die Söhne in der Dunkelheit ihre Sünden
abknieten. Bis sie der Vater in seiner Gnade erlöste. Oder bis sie einfach vor Erschöpfung nach vorne kippten.
    Auch der kleine Heinrich kniete oft am Fuße dieser Treppe, im Rücken den feuchtkühlen Atem des Kellerlochs und über ihm die Ahnung einer noch härteren Bestrafung.
Tagsüber der Acker, abends die Treppe, nachts die rasenden Träume, das waren die schlechten Tage.
    Die guten Tage waren die Sonntage. An den Sonntagen schrubbten sich die Brüder frühmorgens so lange gegenseitig mit der Rosshaarbürste ab, bis sich die Haut in dünnen, grauen
Fetzen vom Körper löste und darunter eine neue, rosig glänzende Schicht zum Vorschein kam. Danach schlüpften sie in duftende weiße Hemden und gestärkte schwarze
Anzüge und marschierten geschlossen zur Kirche. In den hölzernen Stuhlreihen konnte man sitzen. Hatte seine Ruhe. War still und ernst. Und der einlullende Singsang von der hohen Kanzel
versprach Wunderbares: Da gibt es irgendwo etwas Weiteres als einen Kartoffelacker! Da gibt es irgendwo etwas Mächtigeres als den Vater! Der kleine Heinrich saß eingezwängt zwischen
seinen Brüdern. Wieder konnte er ihre Rücken knarren hören, aber hier hatte es etwas Tröstliches. Die bunten Lichtbalken, die durch die Mosaikfenster fielen und
staubdurchwirbelt den hohen Raum durchragten, verhießen eine Zukunft, fern von dreckigen Knollen und rissigen Händen.
    Und das Knien auf den weichen Holzbänken war geradezu eine Wohltat.
    Als nach dem großen Sturm der Blitz einschlug und der Hof bis aufs Fundament abbrannte, mitsamt Stall, Vieh und Maschinen, musste der Vater von seinen Söhnen mit aller Gewalt und in
letzter Sekunde ins Freie gezerrt werden. Dort blieb er einfach stehen und rührte sich nicht mehr. Einen ganzen Tag und eine halbe Nacht lang stand er regungslos vor dem riesigen, lautlos
kokelnden Haufen.
    Man fand ihn am nächsten Morgen. Er hing an einem Türstock, der wie durch ein Wunder einsam stehen geblieben war. Ein Bild wie aus einem alten Western. Seine Hände waren zu
Fäusten geballt und hingen wie Steine an den schlaffen Armen. Über den Feldern hinter ihm ging die Sonne auf.
    Heinrich trauerte nicht lange und auch nur nach außen hin. In Wahrheit jubilierte sein Herz. Hin und wieder ging er am frühen Morgen heimlich zum Friedhof, um auf Vaters Grab zu
spucken. Er war nun achtzehn Jahre alt, die Kellertreppe war abgebrannt, der Vater tot, die Mutter im Heim, die Brüder in alle Richtungen verstreut, und die Kartoffelbranche ging sowieso den
Bach runter.
    Heinrich Priem folgte seiner stillen, aber zähen Sehnsucht und warf sich endgültig in den Schoß der Kirche. Er wollte Pfarrer werden. Eine Weile ging die Sache auch gut. Zwei
Jahre lang, um genau zu sein. Danach kamen ihm die Hormone und ein rundliches Mädchen namens Helga in die Quere. In einer wirren Stunde voller Lust und Gewissensbisse ließ er sich von
Helga einfangen, und sie wurde schwanger. Die Kirche öffnete ihren Schoß, und er plumpste auf den harten Boden der Weltlichkeit.
    Vom Katholizismus zur Pädagogik sind die Wege kurz. Heinrich beschloss, Lehrer zu werden. Und er wurde ein guter Lehrer. Nach einer Lehrzeit als Aushilfskraft in einer dörflichen
Grundschule kam er schließlich an die Hermann-Conradi-Gesamtschule. Er setzte sich ein, bildete sich fort, diente sich hoch und wusste seinen Ehrgeiz nötigenfalls zu verbergen, um
niemandem auf die Füße zu treten. Und hinter seiner hohen, glatten Stirn verbarg sich ein furchtbarer, an fundamentalen Starrsinn grenzender Gerechtigkeitssinn.
    Eines Tages folgte er dem lang ersehnten Ruf der Obrigkeit, räumte seine wenigen Habseligkeiten aus dem Blechspind im durchräucherten
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