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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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Nachbargrundstück tat sich was. Leute standen im Garten herum. Redeten. Lachten. Ließen Gläser klirren. Frauen in Blümchenschürzen, Männer in
Unterhemden. Uralte Knacker. Dreißig oder noch älter. Ich schob einen Zweig zur Seite und spuckte aus der Hecke heraus. Im hohen Bogen zischte der gleißende Tropfen meiner
Verachtung durch die Luft und landete unbemerkt im Nachbarrasen.
    Die Männer kippten Bier aus Dosen, die Frauen schlürften Sekt aus dünnen Gläsern. Auf einem wackeligen Grill brutzelten ein paar Würstchen. Das Fett tropfte zischend auf
die glühenden Kohlestücke, und der Geruch von verbranntem Fleisch und billigem Parfum lag in der Luft. Alle waren gut gelaunt. Es wurde viel gelächelt, gezwinkert, mit dem
Plastikschmuck geklimpert und so weiter. Goldzähne blitzten in der Sonne. Aus Sockenbündchen quoll das Wadenfett in winterlich weißen Wülsten heraus. In einem kleinen Rekorder
eierte eine Kassette und untermalte alles mit einer Art blecherner Gute-Laune-Musik.
    Ich wollte gerade wieder Speichel sammeln, um ein weiteres Geschoss abzuschicken, als ich sie sah: Ungefähr mein Alter, klein, pummelig, Pferdeschwanz, schwarze Lackschuhe, weiße
Söckchen, blauer Rock, gelbes Haarband. Stand einfach da, regungslos wie eine Statue, und starrte genau zu mir herüber. Ich wagte nicht, mich zu rühren. Blieb ganz still. Atmete
nicht. Doch es war zu spät. Plötzlich setzte sie sich in Bewegung, hopste quer über den Rasen, ließ sich auf die Knie fallen und kroch zu mir ins Gebüsch.
    Alles in mir spannte sich an. Ich wusste, dass ich aufpassen musste. Die Sache war mir unangenehm. Unheimlich. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr, die Kleine saß nun einmal da.
Vorsichtig hielt ich ihr die Tüte mit den Karamellbonbons hin. Sie nahm drei und steckte sie sich in den Mund. Eine Weile saßen wir leise lutschend da und starrten uns an.
    »Magst du bumsen?«, fragte sie plötzlich und zeigte auf meine Badehose.
    Das kam überraschend. Ich hatte von diesem Bumsen schon gehört, allerdings immer nur in irgendwelchen nebulösen, völlig unverständlichen Zusammenhängen.
    »Und du?«, fragte ich vorsichtig zurück.
    »Klar!«, sagte sie. »Zieh die Hose aus!«
    Das klang vernünftig. Ich zog meine Badehose aus und hängte sie an einen Ast in Blickhöhe. Eine Weile geschah nichts. Die Erde war kühl unterm Hintern. Im Hintergrund
plätscherte das Stimmengewirr der Grillgäste und das blecherne Gedudel aus dem Rekorder.
    Plötzlich fasste sie sich an den Hinterkopf, zog ihr gelbes Haarband vom Pferdeschwanz, beugte sich nach vorne, griff beherzt zu und band mir eine große Schleife um meinen Pimmel.
    Ich war beeindruckt. Ich hatte das Schleifenbinden noch nicht gelernt, weder im Kindergarten noch zu Hause, sie hingegen brauchte nur ein paar Handgriffe und das Ding saß. Das kleine Luder
hatte Erfahrung.
    »Schön!«, nickte sie anerkennend und stopfte sich drei oder vier weitere Bonbons in den Mund. Jetzt erst sah ich ihre Augen. Sie waren ungewöhnlich groß und
grün. Glänzend grün wie der Panzer des Käfers, den ich vorher ins Gebüsch geschnippt hatte. Und auf einmal sah ich auch ihre Zahnlücken, tief und dunkel wie
Baugruben.
    Vom Nachbargrundstück keifte eine schrille Frauenstimme herüber:
    »Trixiiie!«
    Das Mädchen zuckte zusammen als hätte ihr jemand mit einem nassen Lappen in den Nacken geschlagen.
    »Ich geh dann mal!«, sagte sie schnell, nickte mir zu, kroch aus der Hecke, lief zu ihren Leuten hinüber und verschwand im Haus.
    Ich blieb zurück, in meinem Blätterdachdunkel, eine gelbe Schleife um den Pimmel und ein seltsames Schwirren im Kopf.
    Das also war Bumsen. Unspektakulär eigentlich. Obwohl ich davon bislang allerhöchstens ein paar verschwommene Fantasien und dementsprechend wenig Erwartungen gehabt hatte, war ich doch
ein wenig enttäuscht.
    Und trotzdem hatte die kurze Begegnung mit Trixi etwas in mir ausgelöst. Etwas nicht zu Benennendes. Etwas Unsagbares. Vielleicht waren es die Augen, vielleicht die Zahnlücken,
vielleicht die kleinen Bewegungen der rosigen Wurstfinger an meinem Pimmel, schwer zu sagen. Irgendetwas jedenfalls hatte mich in eine nie gekannte innere Verwirrung gestürzt und eine
Sehnsucht in mir entzündet, die nicht mehr zu löschen sein würde. Nie mehr.
    Die Bonbons waren alle. Ich kroch ein wenig benommen aus der Hecke und ging zum Haus hinüber. Zwischen meinen Beinen wippte die Schleife wie ein großer gelber Schmetterling. Aus dem
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