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Jetzt! - die Kunst des perfekten Timings

Jetzt! - die Kunst des perfekten Timings

Titel: Jetzt! - die Kunst des perfekten Timings
Autoren: Campus
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Zeit hätte. Damit fehlt nur noch die Coda.

Kapitel 9
Coda:
    Ein verändertes Weltbild

    Koda: Ein Schlussteil, der aus der Grundstruktur einer Komposition herausfällt und angefügt wird, um den Eindruck der Endgültigkeit zu vermitteln oder zu verstärken.
    Harvard Dictionary of Music 1

    … Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende.
    Samuel Beckett 2
    Albert Camus schrieb 1936 in seinen Tagebüchern : »Man denkt nur in Bildern.« 3 Das ist sicher übertrieben, aber Bilder sind wichtig. Wir sagen gern, die Welt sei heute stärker vernetzt als früher. Wenn wir an Globalisierung denken, schwebt uns das entsprechende Bild eines Globus vor Augen: eine sich drehende Kugel, um die sich ein Verbindungsnetz legt, für das das World Wide Web ein herausragendes Beispiel ist. Aber dieses Bild lässt uns in die Falle eines unendlich komplexen Spinnennetzes gehen. Zu viel passiert in zu vielen Richtungen, als dass wir alles verstehen könnten. Deshalb halte ich eine polyphone Partitur für ein sinnvolles Organisationsmodell. Als die USA noch eine unumstrittene Weltmacht waren, konnten sie den Ton angeben. Schwächere Länder hatten keine andere Wahl, als das, was die Vereinigten Staaten machten, zu begleiten (in Einklang damit zu sein) oder einen hohen Preis zu zahlen. Das gilt zwar nach wie vor, aber in geringerem Maße. Mit dem Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens und der Entwicklungsländer werden die USA zu einem Spieler in einer großen, polyphonen, polyrhythmischen Partitur. Noch immer sind sie ein wichtiger Spieler, aber nicht mehr der einzige. Andere Länder möchten selbst entscheiden, welchen Part sie spielen. Zudem haben sie eigene Vorstellungen, wie die Gesamtkomposition aussehen, gespielt und interpretiert werden sollte.
    Wir müssen über Kugeln und Netzwerke, Kästen und Pfeile, Bäumeund Zweige (ein beliebtes Bild für die grafische Darstellung hierarchischer Organisationen) hinausgehen. Diese Bilder haben ihren Nutzen, aber auch ihre Grenzen. Sie werden uns nicht helfen, das richtige Timing zu finden. Stattdessen schlage ich vor, sich die Welt und den Globalisierungsprozess als eine große polyphone Partitur vorzustellen, in der zahlreiche Prozesse und Ereignisse gleichzeitig stattfinden.
    In der Partitur in Abbildung 9.1 habe ich den Anfang der Nationalhymnen einiger Länder so transponiert, dass sie alle dieselbe Tonart haben wie die US-Hymne »The Star-Spangled Banner«, nämlich D-Dur. Frei nach Dvořák nenne ich diese Partitur Symphonie der neuen Welt des 21. Jahrhunderts .
    [Bild vergrößern]
    Abb. 9.1: Symphonie der neuen Welt des 21. Jahrhunderts
    Spielt man die Nationalhymnen der Vereinigten Staaten, Kanadas und Mexikos bei gleicher Lautstärke gleichzeitig, tritt die US-Hymne gegen Ende eindeutig dominant hervor. Spielt man die französische und die deutsche Hymne zusammen, klingt das Ergebnis zumindest in meinen Ohren schlicht nach Lärm. Andere Kombinationen habe ich nicht ausprobiert, aber wenn man alle Hymnen gleichzeitig spielt, hört sich das Resultat zu meiner Verwunderung gar nicht so schlecht an – und das nehme ich als hoffungsvolles Zeichen. Jeden Tag würde ich es mir zwar nicht anhören wollen, aber es ist doch Musik, nicht nur Chaos oder Lärm. Ganz am Ende klingt die Komposition für einen Moment schief und ein bisschen falsch. Aber das ist nur ein relativ kurzes Intervall.
    Aus dieser Partitur können wir meiner Ansicht nach einiges lernen, was für eine Timinganalyse in jeder Situation relevant ist.
    Von den Nationalhymnen der annähernd zweihundert Staaten der Welt habe ich nur von neun Hymnen die ersten Takte verwendet. Unser Bild der Welt und der unmittelbaren Umgebung, in der wir handeln, ist äußerst begrenzt, wenn wir uns nicht bemühen, es zu erweitern.
    Mozart war beispielsweise imstande, das Ganze im Blick zu behalten:

    Das erhitzt mir nun die Seele, wenn ich nämlich nicht gestört werde; da wird es immer größer; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopfe wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, sodaß ich’s hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen im Geiste übersehe, und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Das ist nun ein Schmaus. Alles das Finden und Machen gehet in mir nur wie in einem schönstarken Traume vor: aber das Überhören, so alles zusammen, ist doch das Beste.
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