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Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Jerusalem: Die Biographie (German Edition)

Titel: Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Autoren: Simon Sebag Montefiore
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Bombardierung zeugen. Um jeden Zentimeter kämpften die Juden mit nahezu selbstmörderischer Hingabe. Dennoch überwand Titus die erste Stadtmauer innerhalb von 15 Tagen, da er über das gesamte Arsenal von Belagerungsgerät, Katapulte und die Findigkeit römischer Ingenieure verfügte. Er zog mit tausend Legionären durch das Gewirr Jerusalemer Märkte und stürmte die zweite Mauer. Aber die Juden eroberten sie in einem Ausfall zurück. So musste die Mauer erneut erstürmt werden. Als nächstes versuchte Titus die Stadtbevölkerung mit einer Militärparade einzuschüchtern – Rüstungen, Helme, blanke Schwerter, wehende Standarten, glitzernde Adler, kriegerisch aufgezäumte Pferde. Tausende Jerusalemer sammelten sich auf den Mauern, um sich dieses Spektakel anzusehen und »die Schönheit der Waffen, die vortreffliche Ordnung unter den Soldaten« zu bewundern. Aber die Juden blieben hartnäckig oder hatten zu viel Angst vor ihren Kriegsherren, um sich ihren Befehlen zu widersetzen: Sie kapitulierten nicht.
    Letztlich beschloss Titus, die ganze Stadt einzukesseln und mit einem Belagerungswall zu umgeben. Ende Juni stürmten die Römer die trutzige Burg Antonia oberhalb des Tempels und machten sie dem Erdboden gleich – bis auf einen Turm, in dem Titus sein Hauptquartier einrichtete.
    Im Hochsommer wuchsen auf den zerklüfteten, zerschundenen Bergen ganze Wälder aus Kreuzen mit fliegenumschwärmten Leichen, während in der Stadt Untergangsstimmung, unversöhnlicher Fanatismus, willkürlicher Sadismus und quälender Hunger herrschten. Bewaffnete Banden suchten nach Nahrung. Eltern und Kinder rissen sich gegenseitig die Bissen aus den Händen. Wo verschlossene Türen auf verborgene Vorräte hindeuteten, ließen die Kriegsherren sie aufbrechen und ihren Opfern Stöcke in das Hinterteil treiben, damit sie ihre Getreideverstecke preisgaben. Wenn sie nichts fanden, quälten sie den Betreffenden noch grausamer, »als wären sie ihres Rechtes verlustig gegangen«. Obwohl die Kämpfer selbst noch zu essen hatten, töteten und folterten sie, nur »um ihre Wut zu sättigen«. Immer wieder kam es in Jerusalem zu einer wahren Hexenjagd, bei der die Menschen sich gegenseitig bezichtigten, Vorräte zu horten oder Verräter zu sein. Der Augenzeuge Josephus berichtet: »Keine Stadt hat je Ähnliches auszustehen gehabt, und kein Geschlecht, solange die Welt steht, war erfinderischer in Werken der Bosheit.« [4]
    »Knaben und Jünglinge, krankhaft angeschwollen, wankten wie Gespenster über die öffentlichen Plätze und sanken zu Boden, wo einen die Hungerseuche ergriff.« Menschen starben bei dem Versuch, ihre Angehörigen zu beerdigen, andere begrub man, obwohl sie noch atmeten. Hunger raffte ganze Familien in ihren Häusern dahin. »Mit trockenen Augen und weit geöffnetem Munde« sahen Jerusalemer ihre Lieben sterben. »Tiefes Schweigen, wie eine bange Todesnacht, lag über der Stadt« – aber die »Sterbenden blickten starren Auges zum Tempel hinauf«. Auf den Straßen häuften sich die Leichen. Trotz der jüdischen Gesetze wurde bald niemand mehr in diesem großen Beinhaus begraben. Vielleicht hatte Jesus Christus das vorhergesehen, als er die bevorstehende Apokalypse vorhersagte und erklärte: »Lass die Toten ihre Toten begraben.« Manchmal warfen die Aufständischen die Leichen einfach über die Stadtmauer. Dort ließen die Römer sie in faulenden Haufen verwesen. Aber die Rebellen kämpften weiter.
    Selbst Titus, ein abgehärteter römischer Soldat, der in seinem ersten Gefecht zwölf Juden mit seinem Bogen getötet hatte, war entsetzt und verwundert: Er konnte nur seufzend die Götter als Zeugen anrufen, dass dies nicht sein Werk sei. Er war »der Liebling und das Entzücken des Menschengeschlechts« und für seine Großzügigkeit bekannt. »Freunde, ich habe einen Tag verloren«, erklärte er, wenn er keine Zeit gefunden hatte, seine Kameraden zu beschenken. Er war kräftig, rau, aber herzlich, hatte ein Grübchen im Kinn, einen großen Mund und ein rundliches Gesicht und erwies sich als begnadeter Feldherr und beliebter Sohn des neuen Kaisers Vespasian: Von Titus’ Sieg über die jüdischen Rebellen hing ihre noch unbewährte Dynastie ab.
    Zu Titus’ Entourage gehörten zahlreiche abtrünnige Juden, darunter drei Jerusalemer – ein Geschichtsschreiber, ein König und (offenbar) eine zweifache Königin, die das Bett des Cäsaren teilte. Der Geschichtsschreiber war Titus’ Berater Flavius Josephus, ein Kommandeur der
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